Schirmherr: Gert Postel
Geschäftsstelle:
Haus der Demokratie u. MenschenrechteGreifswalder Straße 4
10405 Berlin
B
Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG
I
Zulässigkeit von Zwangsbehandlung nach § 6 MVollzG Rh-Pf
1. Gesetzeslage
a) § 6 MVollzG Rh-Pf
6 MVollzG Rh-Pf bestimmt, unter welchen Voraussetzungen operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen bei einem untergebrachten Patienten zulässig sind. Dabei unterscheidet der Gesetzgeber zwischen Maßnahmen, die nur mit Einwilligung des Patienten zulässig sind, und solchen, die auch ohne dessen Einwilligung vorgenommen werden können (Zwangsbehandlung). Dabei gilt gesetzlich für alle Maßnahmen, dass diese für den untergebrachten Patienten zumutbar sein müssen und nicht außer Verhältnis zu dem erwarteten Erfolg stehen dürfen. Sie dürfen auch nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden (§ 6 Abs. 4 Satz 1, 2 MVollzG Rh-Pf).
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 MVollzG Rh-Pf sind operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind, nur bei Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig.
Operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen ohne Einwilligung sind nur zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 MVollzG Rh-Pf). Des Weiteren dürfen Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung der untergebrachten Person durchgeführt werden (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 MVollzG Rh-Pf). Demnach sind zumindest operative Eingriffe zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des Patienten unzulässig. Schließlich dürfen Behandlungen und Untersuchungen, soweit sie nicht mit einem Eingriff verbunden sind, auch zum allgemeinen Gesundheitsschutz und zur Hygiene ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten vorgenommen werden (§ 6 Abs. 1 Satz 2. Hs. 2 MVollzG Rh-Pf).
Soweit die untergebrachte Person nicht in der Lage sein soll, Grund, Bedeutung und Tragweite der Maßnahmen einzusehen oder seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen, so ist die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters maßgebend (§ 6 Abs. 4 Satz 1 MVollzG Rh-Pf).
Die einfachgesetzliche Möglichkeit einer Zwangsbehandlung ist daher von zwei Seiten her eingeschränkt: von der Seite der zulässigen Maßnahmen und von der Seite der Zielsetzung. Maßnahmen, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind, können daher ausschließlich nur mit dessen Einwilligung vorgenommen werden. Ist ein solches Risiko oder eine solche Gefahr nicht mit der Maßnahme verbunden, kann diese auch ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten vorgenommen werden, wenn eine Lebensgefahr, eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder eine Gefahr für die Gesundheit anderer Personen abgewendet werden soll. Soweit es sich bei der Maßnahme nicht um einen operativen Eingriff handelt, ist auch dann eine Einwilligung entbehrlich, wenn sie der Erreichung des Vollzugsziels dient. Ist die Behandlung oder Untersuchung sogar ohne jeden Eingriff möglich, kann sie schon zum allgemeinen Gesundheitsschutz oder zur Hygiene vorgenommen werden.
b) einschlägige Alternativen
In dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Fall soll die Verabreichung der Neuroleptika weder zur Abwendung einer Lebensgefahr, einer schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder einer Gefahr für die Gesundheit anderer Personen, noch zum allgemeinen Gesundheitsschutz oder zur Hygiene eingesetzt werden. Ziel der Behandlung durch Neuroleptika ist allein die behauptete Behandlung der Anlasskrankheit, womit sie der Erreichung des Vollzugsziels dienen soll. § 6 Abs. 1 Satz 1, Hs. 2 und Satz 2 Hs. 2 MVollzG Rh-Pf sind damit für die hiesige Untersuchung nicht von Relevanz.
Die in § 6 Abs. 4 MVollzG Rh-Pf normierte Konstellation, dass der Untergebrachte nicht in der Lage sein soll, Grund, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme einzusehen oder seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen, und daher die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters als maßgeblich angesehen wird, ist für den vorliegenden konkreten Fall ebenfalls nicht relevant, da an dem der Behandlung entgegenstehenden Willen des Beschwerdeführers auch nach Einschätzung der Fachgerichte keine Zweifel bestehen.
Gegenstand der einfachgesetzlichen Prüfung ist also allein, ob die Verabreichung von Neuroleptika erstens einen operativen Eingriff, Behandlung oder Untersuchung darstellt, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden ist. In dem Fall wäre sie schon ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten nach einfachem Recht unzulässig. Sollten mit der zwangsweisen Verabreichung von Neuroleptika derartige Folgen nicht verbunden sein, stellt sich zweitens die Frage, ob diese auch ohne Einwilligung des Patienten allein zur Erreichung des Vollzugsziels zulässig ist. Dabei kommt es maßgeblich darauf an, ob diese gesetzliche Grundlage mit dem einschlägigen Verfassungsrecht, namentlich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG, vereinbar ist.
2. Zwangsbehandlung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 MVollzG Rh-Pf
Zu prüfen ist also zunächst, ob mit der Verabreichung von Neuroleptika ein wesentliches gesundheitliches Risiko oder eine Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden ist. Sollte dies der Fall sein, wäre sie nur mit der Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig. Auf den Zweck der Erreichung des Vollzugsziels käme es insofern nicht an.
Neuroleptika sind Standardmedikation bei der Behandlung und Vorbeugung von Psychosen. Diese werden unterschieden in so genannte „klassische“ und „atypische“ Neuroleptika.
„Klassische“ Neuroleptika zeichnen sich vor allem durch die Verursachung von Früh- und Spätdyskinesien (Bewegungsstörungen) aus, wobei es auch zu einem irreversiblen Verlauf kommen kann [iii] . Untersuchungen haben ergeben, dass in 20% der Fälle von längerer Anwendung von Neuroleptika irreversible Bewegungsstörungen (tardive Dyskinesien) aufgetreten sind [iv] . Andere Quellen sprechen sogar davon, dass auch bei schwach wirksamen Neuroleptika in bis zu 40% der Fälle auch nach relativ kurzem Gebrauch irreversible extrapyramidal-motorische Störwirkungen, meist in Form von zirkumoralen terminalen Hyperkinesen, auftreten können [v] . Alle Neuroleptika können ein akut lebensbedrohliches malignes Neuroleptikasyndrom auslösen, das durch Rigor, Akinese, Fieber, kardiovaskuläre und Bewusstseinsstörungen gekennzeichnet ist und eine hohe Letalität besitzt (20%) [vi] .
Auch atypische Neuroleptika zeichnen sich durch vielfältige Nebenwirkungen aus, die im wesentlichen Maße die Gesundheit des Betroffenen schädigen und sein körperliches Wohlbefinden beeinträchtigen. So konnten bei der Anwendung des atypischen Neuroleptika Abilify (Aripiprazol) u. a. in 15-26% der Fälle extrapyramidale Symptome (=Bewegungsstörungen), in 25% der Fälle Angstzustände, in 32% der Fälle Kopfschmerzen und in 12% der Fälle Brechreiz und Erbrechen festgestellt werden. Bei der Anwendung von Zyprexa (Olanzapin) konnten als Nebenwirkungen u. a. in 15% der Fälle eine gesteigerte Aggressivität, in bis zu 19% der Fälle extrapyramidale Symptome und in 15% der Fälle Verstopfungen festgestellt werden [vii] . Zwei Drittel aller Neuroleptikakonsumenten klagen über schwere Depressionen. Fast immer wird durch den Konsum der Antrieb gehindert. Eine vergleichende unabhängige Studie hat ergeben, dass der Großteil der „atypischen“ Neuroleptika keinen Wirkvorteil gegenüber den „klassischen“ Neuroleptika erkennen lässt. Auch hinsichtlich der Gesamtverträglichkeit gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Neuroleptika. Extrapyramidal-motorische Störungen kommen unter den geprüften Neuroleptika ähnlich häufig vor [viii] . Insgesamt kann man sagen, dass die Bewertung „atypischer“ Neuroleptika keine Vorteile erkennen lässt [ix]
Da demnach mit der Verabreichung von Neuroleptika ein wesentliches gesundheitliches Risiko für den Beschwerdeführer einhergeht, findet die Zwangsbehandlung vorliegend nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 MVollzG Rh-Pf schon keine gesetzliche Grundlage, weshalb sie gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstößt.
Selbst wenn man allerdings die Voraussetzungen von § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 MVollzG Rh-Pf – wie die Fachgerichte – nicht als erfüllt ansehen würde, bliebe die Zwangsbehandlung verfassungswidrig.
[iii] Dazu Lehmann, Der chemische Knebel, Berlin 1986; ders., Schöne neue Psychiatrie, Berlin 1996.
[iv] Vgl. Aderholt/ Bock/ Greve, Fachliche Stellungnahme zu den geplanten gesetzlichen Änderungen durch den § 1906a BGB und § 70o FGG, Pkt 3b; http://www.bpe-online.de/infopool/recht/andere/ambu_zwang_aderhold.htm.
[v] Arzneimitteldatenbank des Arznei-Telegramms, www.arznei-telegramm.de.
[vi] Arzneimitteldatenbank des Arznei-Telegramms, www.arznei-telegramm.de.
[vii] Arzneimitteldatenbank des Arznei-Telegramms, www.arznei-telegramm.de.
[viii] Vgl. arznei-telegramm 11/2005, 36:98-100 (http://www.arznei-telegramm.de/html/2005_11/0511098_01.html).
[ix] Arzneimitteldatenbank des Arznei-Telegramms, www.arznei-telegramm.de.