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Anmerkung zum „Zwangsbehandlungsbeschluß“
des Bundesverfassungsgerichts vom 23.03.2011 – 2 BvR 882/09 –
Von Rechtsanwalt Dr.
David Schneider-Addae-Mensah, Karlsruhe/Strasbourg
engen inhaltlichen und formellen Grenzen. Das ist der Grundtenor des
„Zwangsbehandlungsbeschlusses“ des Bundesverfassungsgerichts.
Es hat daher § 6 Abs. 1 S. 2 HS 1 MVollzG RP für verfassungswidrig und
nichtig erklärt, weil diese Vorschrift jene engen Grenzen nicht
einhielt.
I. Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
1. Definition
Zunächst definiert das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Zwangsbehandlung als
„medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen.“1
2. „Heilung“ als Körperverletzung
Eine solche Zwangsbehandlung greift dem Bundesverfassungsgericht
zufolge in besonders schwerwiegender Weise in das Recht des Betroffenen
auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein.
„Der Betroffene wird genötigt, eine Maßnahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt.“2
Damit läßt auch die tatsächliche oder vorgebliche Zielrichtung der
Zwangsbehandlung, die „Heilung“ oder „Besserung“ des Betroffenen, den
Eingriffscharakter nicht entfallen.3 Im Gegenteil kann nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts eine zwangsweise „Heilung“ von
Psychiatriepatienten, die dem „Geschehen hilflos und ohnmächtig
ausgeliefert“4 sind und die eine „Zwangsinvasion“ „besonders intensiv
empfinden“5 die Stärke des Eingriffs sogar noch erhöhen. Dies gelte
besonders im Hinblick auf die im Rahmen der Zwangsbehandlung
verabreichten Medikamente, namentlich Psychopharmaka, die teils
lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben können und „auf die Veränderung
seelischer Abläufe gerichtet“6 sind.
Dem alten Theorienstreit zum tatbestandsausschließenden Einverständnis
ist mit dieser Position der Boden entzogen. Das
Bundesverfassungsgericht hat mit der nötigen Deutlichkeit klargestellt,
daß ein ärztlicher „Heil“-Eingriff ebenso eine Körperverletzung ist wie
ein mit einer anderen Zielrichtung vorgenommener körperlicher Eingriff.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, daß eine
Eingriffsqualität entfallen könne, wenn der Untergebrachte umfassend
ärztlich aufgeklärt und frei von jeglichem Druck, wie etwa dem
Inaussichtstellen von Nachteilen, einer medizinischen Behandlung
zustimmt.7 Diese Haltung bezieht sich indes nur auf die
verfassungsrechtliche Eingriffs-Qualität einer medizinischen
„Heil“-Behandlung und sagt nichts über deren Charakter als
Körperverletzung aus.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch die Gefährlichkeit, die von
Psychopharmaka ausgehen in der wünschenswerten Deutlichkeit
unterstrichen und die Ohnmacht angesprochen, in der sich die
Betroffenen in der Regel in einer Unterbringungsmaßnahme befinden und
dies richtig als eingriffsverstärkend gewertet.
II. Rechtfertigung des Eingriffs
Ungeachtet der unter I. beschriebenen besonderen Grundrechtsintensität
des Eingriffs hat das Bundesverfassungsgericht eine medizinische
Zwangsbehandlung nicht per se für verfassungswidrig erklärt, sondern
eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung unter den im Folgenden
analysierten engen inhaltlichen und formellen Grenzen zugelassen.
1. Keine Zwangsbehandlung zum Schutz der Bevölkerung vor Straftätern
Per se ausgeschlossen hat das Gericht zunächst eine Zwangsbehandlung
von Tätern zum Schutz der Bevölkerung vor Straftaten.8
Damit hat das Bundesverfassungsgericht in begrüßenswerter Weise eine
Zwangsmedikation aus puren Sicherheitsinteressen verboten. Der Wert
dieser Position zeigt sich in der in unserer Gesellschaft heute mit
teils schon psychotisch anmutenden Zügen geführten Sicherheitsdebatte.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Verletzung sensibelster Bereiche
des menschlichen Lebens durch pure staatliche Sicherheitsparanoia
einen Riegel vorgeschoben.
Der Satz im Koalitionsvertrag 2011 von SPD und Bündnis 90 / Die GRÜNEN
in Rheinland-Pfalz, bei der dort vereinbarten Novellierung des
Maßregelvollzugsgesetzes (s.u.) „gleichzeitig die berechtigten
Sicherheitsinteressen der Bevölkerung [zu] wahren“9 ist daher
verfassungsrechtlich bedenklich. Allerdings dürfte der Satz
verfassungskonformer Auslegung zugänglich sein: „berechtigte
Sicherheitsinteressen“ für eine Zwangsmedikation gibt es nämlich vor
dem Hintergrund des hier besprochenen Beschlusses gar nicht. Allenfalls
hat die Erwähnung der „Sicherheitsinteressen“ in diesem Zusammenhang
für die Unterbringung als freiheitsentziehende Maßnahme Bedeutung und
nur dort darf sich der rheinland-pfälzische Gesetzgeber bei einer
Neuregelung überhaupt mit „Sicherheitsbelangen“ der Bevölkerung
beschäftigen. Für die Frage der Zwangsbehandlung sind
„Sicherheitsinteressen“ der Bevölkerung vor Straftätern hingegen kein
hinreichend legitimer gesetzgeberischer Zweck.
2. Freiheitsinteresse des Untergebrachten – Behandlungsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen des Grundrechtsträgers
a) Krankheitsbedingte Krankheitsuneinsichtigkeit als inhaltliche Rechtfertigung
Das Gericht geht allerdings davon aus, daß das Freiheitsinteresse des
Untergebrachten selbst ein rechtfertigender Grund für eine
Zwangsbehandlung sein kann. „Zwangsbehandlungen Untergebrachter, auch
solche, die auf deren Entlassungsfähigkeit gerichtet sind“ seien „nicht
[…] generell unzulässig“.10 Zwar betont das Gericht auch hier die
grundrechtlich geschützte „Freiheit zur Krankheit“.11 Sei ein
Untergebrachter jedoch krankheitsbedingt nicht krankheitseinsichtig, so
hindere dies den Betroffenen „seine grundrechtlichen Belange insoweit
wahrzunehmen“12 und sei der Staat „nicht verpflichtet, ihn dem Schicksal
dauerhafter Freiheitsentziehung zu überlassen“.13 In diesen Fällen könne
der Gesetzgeber daher auch „Behandlungsmaßnahmen gegen den natürlichen
Willen des Grundrechtsträgers“ zulassen.14 Dem stehe auch die
UN-Behindertenrechtskonvention nicht entgegen.15 Für die
krankheitsbedingte Krankheitsuneinsichtigkeit sei aber nicht
ausreichend, daß die Haltung des Untergebrachten von durchschnittlichen
oder als „vernünftig“ eingestuften Positionen abweicht.16
aa) Keine Handlungspflicht des Staates
Zunächst einmal kann zu dieser Position des Verfassungsgerichts
festgestellt werden, daß es keine Pflicht sondern nur ein Recht des
Staates zum Einzugreifen festgestellt hat. Sowenig der Staat dazu
verpflichtet ist, den Einzelnen dem „Schicksal dauerhafter
Freiheitsentziehung“ zu überlassen, so wenig ist er verpflichtet,
einzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern keine
Handlungspflicht des Staates statuiert. Er kann, muß aber nicht
eingreifen. Das heißt für einen Gesetzgeber, daß er die
Zwangsbehandlung von Maßregel- und anderen Psychiatriepatienten auch
gänzlich ungeregelt lassen und damit sozusagen durch Schweigen
verbieten kann.
bb) Verbot der Zwangsbehandlung durch ersatzlose Streichung des früheren § 6 Abs. 1 S. 2 MVollzG RP
Hierfür spricht indes Einiges:
(1) Verantwortung und Grundrechtsintensität
Zum Ersten ist festzustellen, daß der Begriff „Schicksal“ im
Zusammenhang mit einer Freiheitsentziehung in der Psychiatrie vom
Bundesverfassungsgericht wenig glücklich gewählt ist. Es liegt nicht in
„Gottes“ Hand ob jemand eingesperrt wird. Dies liegt vielmehr in den
Händen der zuständigen Politiker und der rechtsanwendenden Organe von
Judikative und Exekutive. Der Gesetzgeber und die beteiligten Organe
der Judikative und der Exekutive dürfen nicht aus ihrer Verantwortung
für die von ihnen geschaffenen bzw. vollstreckten grundrechtsintensiven
Regelungen entlassen werden, indem diese zu Schicksalsfragen stilisiert
werden. Die Verantwortlichkeit für die Freiheitsentziehung liegt indes
bei den drei staatlichen Gewalten; sie ist kein Schicksal.
(2) Mangelnde fachliche Beurteilbarkeit
Zum Zweiten hat das Bundesverfassungsgericht mit der grundsätzlichen
Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung jedoch auch eine Büchse geöffnet,
die kaum zu kontrollieren sein dürfte: denn wer stellt die
krankheitsbedingte Krankheitsuneinsichtigkeit fest?
Der menschliche Körper und noch mehr die menschliche Psyche sind
hochkomplexe Organismen, die nach dem heutigen und wohl auch künftigen
Stand der Wissenschaft nie in ihrer ganzen Breite erfaßbar sein werden.
Sowenig der Mensch die Atomkraft beherrscht, so wenig kennt und
beherrscht er die Abläufe im menschlichen Körper, von seinen
rudimentären Deutungen der menschlichen Psyche ganz zu schweigen. Jede
andere Position ist anmaßend. Der oft so beschworene „Halbgott in Weiß“
kommt nicht von ungefähr. Doch wer sich über seine offensichtlichen
Fähigkeiten quasi zum „Halbgott“ emporhebt, läuft Gefahr in der „Hölle“
anzukommen. Hochmut kommt vor dem Fall, sagt nicht umsonst ein
deutsches Sprichwort. Der Mediziner, der glaubt, er sei allwissend oder
könne auch nur die komplexen Abläufe im menschlichen Körper besser
beurteilen als jener, der in dem Körper steckt wandelt auf einem
schmalen Grad zwischen Übermensch und Kriminellem. Denn er läuft Gefahr
sich schnell leichtfertig über den tatsächlichen Willen des Betroffenen
hinwegzusetzen und – sei es aus Überzeugung, sei es aus
Betriebsblindheit – seine eigenen angelernten Thesen zu
verabsolutieren.
Die Unzulänglichkeit menschlicher Wissenschaft, hier der Medizin, hat
das Bundesverfassungsgericht indes bei seinem Beschluß nur ungenügend
berücksichtigt. Es ist ein starkes Argument für ein totales Verbot der
Einmischung, auch wenn der Einzelne sich selbst nicht helfen kann. Denn
eine Hilfspflicht hat das Gericht, wie gesagt, gerade nicht statuiert.
(3) Mißachtung des natürlichen Willens wacher Patienten
Zum Dritten überzeugt nicht, daß das Bundesverfassungsgericht auf der
einen Seite die Freiheit zur Krankheit betont, andererseits aber eine
Behandlung „gegen den natürlichen Willen des Betroffenen“ (=
Zwangsbehandlung) zulassen will. Wer einen natürlichen Willen hat und
äußert muß damit auch Gehör finden. Es kann schlechterdings keine
verfassungsrechtliche Rechtfertigung dafür geben, diesen natürlichen
Willen zu ignorieren oder gar zu brechen.
Allenfalls wäre es verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, bei Absenz
dieses natürlichen Willens zu (be)handeln. Dies wäre nach dem
Bundesverfassungsgericht begrifflich allerdings gar keine
Zwangsbehandlung. Die Feststellung wann der natürliche Wille fehlt ist
indes v.a. bei Psychiatriepatienten schwierig. Hierbei könnte natürlich
auf das Betreuungsrecht abgehoben werden und bei all denjenigen, die
unter Betreuung für den Rechtskreis „Gesundheitsfürsorge“ stehen eine
Absenz des natürlichen Willens fingiert werden. So schön ein solch
einfaches formelles Kriterium auch sein mag, wird eine juristische
Fiktion dem Anspruch des Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit nicht
gerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch gar nicht auf die
Frage abgehoben, ob der Beschwerdeführer unter Betreuung stand oder
nicht. Es hat vielmehr unabhängig davon auf den natürlichen Willen
abgehoben, was rechtsdogmatisch richtig, aber in der Praxis schwerer
handhabbar ist.
Sicher kann das Fehlen des natürlichen Willens nur bei im Zeitpunkt der
Zwangsbehandlung bewußtlosen Psychiatriepatienten festgestellt werden,
die auch keine Patientenverfügung verfaßt haben. Bei allen anderen
Fällen bleiben Zweifel. Aus Verhältnismäßigkeitserwägungen bei
vorliegenden besonders schweren Grundrechtseingriffen wird man indes
eine Vermutung für das Fehlen des natürlichen Willens nicht ausreichen
lassen können und eine sichere Kenntnis hierfür fordern müssen. Dies
ist – zum Ausschluß ärztlicher Willkür – bei Psychiatriepatienten, die
bei Bewußtsein sind, generell auszuschließen. Daher verbietet sich
schon aus diesem Grund die Zwangsbehandlung wacher
Psychiatriepatienten, gegen deren geäußerten natürlichen Willen
generell, ungeachtet der unten noch zu erörternden, vom
Bundesverfassungsgericht aufgestellten
Verhältnismäßigkeitsanforderungen.
Aber auch die Zwangsbehandlung wacher Psychiatriepatienten, die sich
nicht geäußert haben – sei es aus Unvermögen, sei es aus Angst –
verbietet sich nach der Zweifelsregelung. Das Bundesverfassungsgericht
hat betont, daß sich der Patient der Behandlung nicht physisch
widersetzen müsse um seine Ablehnung zu manifestieren.17 Auch ist eine
Druckeinwilligung nichts wert.18 Dann aber ist der natürliche Wille
schweigender, sich in ihr Schicksal fügenden Patienten schlicht nicht
zu ermitteln. Im Zweifel müssen daher auch sie unbehandelt bleiben.
(4) Der frühere natürliche Wille – Die Bedeutung einer Patientenverfügung
Zum vierten ist selbst beim offenkundigen Fehlen des natürlichen
Willens, im Zeitpunkt der Zwangsbehandlung, mithin bei bewußtlosen
Psychiatriepatienten zumindest deren früher manifestierter Wille zu
berücksichtigen, denn auch er schafft Zweifel hinsichtlich ihres
aktuellen hypothetischen Willens. Hier wird das im Zustand geistiger
Zurechnungsfähigkeit erstellte Patiententestament bzw. die
Patientenverfügung eine entscheidende Rolle spielen. Es kommt im
besprochenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts leider nicht vor.
Denn es stellt sich die interessante Frage ob ein krankheitsbedingt
Krankheitsuneinsichtiger seinerseits behandelt werden darf, wenn er im
gesunden Zustand eine Patientenverfügung verfaßt hat. Nach dem was das
Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat, wäre dies der Fall,
denn es hat nichts über den ggf. im gesunden Zustand kundgetanen Willen
gesagt.
Dieses Ergebnis läßt sich schlicht nicht verfassungsrechtlich
rechtfertigen: denn es kann nicht im Sinne des Freiheitsschutzes sein,
daß ein offensichtlich freiverantwortlicher Wille des Patienten nur
deshalb mißachtet wird, weil er inzwischen krankheitsbedingt
krankheitsuneinsichtig geworden ist. Vielmehr wird man in den Fällen
eines vorab freiverantwortlich geäußerten Willens im Zeitpunkt der
anstehenden Behandlung zugunsten des Patienten unterstellen müssen, daß
dieser mutmaßlich nicht behandelt werden will. Mindestens aber bleiben
Zweifel, die eine Behandlung verbieten.
(5) Zwischenergebnis
Eine grundrechtsintensive Behandlung mit Psychopharmaka ist aus
Verhältnismäßigkeitsanforderungen, bereits dann zu verbieten, bzw.
nicht zu erlauben, wenn Zweifel am natürlichen Willen des Patienten
bestehen. Nur bei einem explizit geäußerten Behandlungswillen darf sie
erfolgen. Auch dann sind jedoch die nachstehend erörterten
Verhältnismäßigkeitsanforderungen in entsprechender Anwendung zu
wahren, die das Bundesverfassungsgericht im besprochenen Beschluß
aufgestellt hat.
Eine vom Bundesverfassungsgericht in Ausnahmefällen erlaubte Zwangsbehandlung wird daher vorliegend abgelehnt.
3. Verhältnismäßigkeitsanforderungen
a) Freiheit als ausreichendes Schutzgut?
Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht in seinem
„Zwangsbehandlungsbeschluß“ mit Berufung auf die herrschende Meinung,
daß das Wiedererlangen der Freiheit, mithin das Streben nach einer
Entlassungsfähigkeit des Patienten, in Ausnahmefällen ein sachlicher
Grund für eine Zwangsbehandlung sein kann.19
Bereits diese Auffassung begegnet Bedenken. Zwar wird man anerkennen
müssen, daß das Grundrecht der Freiheit sehr wichtig ist. Es gibt indes
grundsätzlich keine Hierarchie der Grundrechte. Allerdings wird man bei
der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs schon dessen
Intensität zu berücksichtigen haben. Bei einer Zwangsbehandlung wird
gleichzeitig in das Grundrecht auf Freiheit, als auch in jenes auf
körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Der mit der
Freiheitsentziehung verbundene zusätzliche physische Eingriff läßt aber
die Eingriffsintensität ansteigen. Ungeachtet der Frage, ob die
Körperverletzung schlimmer ist als die Freiheitsentziehung wird man
also jedenfalls feststellen müssen, daß eine Kombination aus beidem
jedenfalls grundrechtsintensiver ist als eine bloße
Freiheitsentziehung. Schon aus diesem Grund läßt sich eine
Körperverletzung nicht mit dem Argument rechtfertigen, diese diene der
Wiederherstellung der Freiheit.
Selbst wenn man beide Situationen als gleich grundrechtsintensiv
bewerten würde, so ließe sich die Verletzung eines Grundrechts zur
Wahrung oder gar nur möglichen Wiederherstellung eines anderen
rechtsdogmatisch schlechterdings nicht rechtfertigen. Gerade wenn die
Grundrechte gleichwertig sind, kann der Schutz eines Grundrechts
niemals die Verletzung eines anderen rechtfertigen.
Hinzu kommt, daß mit einer Zwangsmedikamentierung überhaupt nicht
zwingend die Wiedererlangung der Freiheit verbunden ist. Im Idealfall
erhöht sie die Chance hierauf, mehr aber auch nicht. Dann aber ist eine
Zwangsbehandlung schon mangels hinreichender Geeignetheit zum Erreichen
der Entlassungsfähigkeit unverhältnismäßig.
Noch extremer zeigt sich diese Unverhältnismäßigkeit bei einem Blick in
die psychiatrische Praxis. Viele Maßregelpatienten werden auch nach
erfolgter Behandlung mit Psychopharmaka nicht entlassungsfähig und
selbst wenn, oft nicht entlassen. Vielmehr häufen sich die Fälle
lebenslanger Unterbringung auch bei den behandelten Patienten und
leider auch jene Fälle eines behandlungsbedingten Suizids. Die
Nebenwirkungen der Psychopharmaka bringen oft eine physische
Zerstörung, Depressionen und Suizidgedanken mit sich. Selbst wenn der
mit Medikamenten vollgepumpte Patient für sich und andere nicht mehr
gefährlich und mithin entlassungsfähig geworden sein sollte: autonom
lebensfähig ist er nicht mehr. Die Verhältnismäßigkeit ist aber nicht
gewahrt, wenn eine Entlassungsfähigkeit die Schaffung psychischer und
physischer menschlicher Wracks bedingt.
Eine bloße Freiheitschance kann daher im Ergebnis keine Rechtfertigung für eine Zwangsbehandlung sein.
b) Materielle Voraussetzung: Risiko irreversibler Gesundheitsschäden
Das Gericht hat im besprochenen Beschluß allerdings für eine
Zwangsbehandlung folgende weitere Verhältnismäßigkeitsanforderungen
formuliert:
– Ultima ratio der Zwangsbehandlung – getting to yes des Patienten,20
– Konkretisierung der Behandlung, ihrer Art, Dauer und Dosierung,21
– Geeignetheit und Erforderlichkeit.22
Verboten ist eine Zwangsbehandlung demnach, wenn diese „mehr als mit
einem vernachlässigbarem Restrisiko irreversibler Gesundheitsschäden
verbunden ist“.23 Dem ist zwar zuzustimmen. Wie oben beschrieben und
auch durch das Verfassungsgericht anerkannt,24 besteht bei der
Medikamentierung mit Psychopharmaka, die „auf die Veränderung
seelischer Abläufe gerichtet“25 sind, aber stets ein Risiko erheblicher
Gesundheitsschäden durch Nebenwirkungen. Konsequent wäre es daher
gewesen, die Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka aus
Verhältnismäßigkeitsgründen generell für verfassungswidrig zu erklären.
c) Formelle Voraussetzungen
Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz leitet das
Bundesverfassungsgericht eine Reihe formeller Voraussetzungen für eine
Zwangsbehandlung ab:
– Rechtzeitige Ankündigung zur Ermöglichung effektiven Rechtsschutzes,26
– Konkretisierung der geplanten Dauer der Maßnahme, 27
– Anordnung und Überwachung durch einen Arzt,28
– Dokumentationspflicht hinsichtlich Zwangscharakter der Maßnahme,
Durchsetzungsweise, maßgeblicher Gründe der Maßnahme und
Wirkungsüberwachung,29
– Unabhängige Vorabprüfung außerhalb der Einrichtung,30
– Bestimmtheitsgrundsatz.31
aa) Ankündigung – effektiver Rechtsschutz
Mit dem Kriterium der Ankündigung versucht das Bundesverfassungsgericht
die Entscheidung über den Grundrechtseingriff dem Richter
vorzubehalten. Dies ist zu begrüßen. Der Beschwerdeführer hatte im
konkreten Fall folgendermaßen argumentiert:
„Die Frage der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs ist eine
verfassungsrechtliche Fragestellung, die nicht allein in die Hände von
Medizinern gelegt werden darf, sondern deren Beurteilung letztlich
einem unabhängigen Richter vorbehalten bleiben muß.“
Dies soll mit der rechtzeitigen Ankündigung und der damit verbundenen
Möglichkeit, etwa eine gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG
herbeizuführen gewährleistet werden. Ob dies in der Praxis gelingt
hängt indes zum einen von der Unabhängigkeit der Richter ab, die sich
in praxi oft von den internen ärztlichen Stellungnahmen der betroffenen
Unterbringungseinrichtungen leiten lassen.
Auch hängt es von der Finanzkraft des jeweiligen Maßregelpatienten ab,
denn effektiver Rechtsschutz bedingt auch die Finanzierung eines
Verfahrens gemäß § 109 StVollzG, für das in den seltensten Fällen
Prozeßkostenhilfe gewährt wird. Es ist aber nicht hinzunehmen, daß in
der Bundesrepublik v.a. jene zwangsbehandelt werden, die kein Geld
haben. Wünschenswert wäre die Einführung der Pflichtverteidigung nicht
nur für die Maßregelüberprüfung sondern auch für alle anderen, den
Maßregelvollzug betreffenden Verfahren. Schließlich steht bei der Frage
der Zwangsmedikation ein intensivierter, weil doppelter
Grundrechtseingriff inmitten.
bb) Weitere Kriterien
Die Konkretisierung der geplanten Dauer der Behandlung ist ebf. auf
eine Rüge des Beschwerdeführers im konkreten Fall zurück zu führen,
der sich beschwert hatte, daß in seinem Fall lediglich eine Medikation
mit einem „geeigneten Neuroleptikum“ angekündigt worden war, ohne daß
die Art, Maß und Dauer des Einsatzes konkretisiert worden wären.
Die Anordnung und Überwachung durch einen Arzt entspricht völker- und
menschenrechtlichen Verpflichtungen, ist indes in den meisten
Maßregelgesetzen bereits geltende Rechtslage.
Die Dokumentationspflicht hängt eng mit dem Recht auf effektiven
Rechtsschutz zusammen, der nur bei einer Überprüfbarkeit der Maßnahme
gewährleistet werden kann.
Weshalb das Gericht neben dem Kriterium effektiven Rechtsschutzes auch
noch auf eine externe Prüfung abhebt ist nicht recht verständlich, denn
effektiver Rechtsschutz bedeutet eine Richterprüfung und somit eine
externe Prüfung. Nicht ausreichend dürfte in diesem Zusammenhang die
auch vom Bundesverfassungsgericht bezweifelte Betreuerlösung sein,
abgesehen davon, daß nicht für jeden Forensik-Patienten auch eine
Betreuung besteht. Wie das Gericht selbst sagt, sind auch bei weitaus
weniger gravierenden Grundrechtseingriffen Richtervorbehalte
vorgesehen, so daß vorliegend jedenfalls für die Schaffung eines
solchen plädiert wird, der aber mit dem Anspruch auf effektiven
Rechtsschutz auch verwirklicht sein dürfte.
Im Ergebnis sind die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten
formellen Kriterien zur Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung zwar besser
als nichts. Es darf aber bezweifelt werden, daß sie sich in der Praxis
bewähren und damit einen effizienten Schutz vor unverhältnismäßigen
Zwangsbehandlungen bieten. Nur bei richterlicher Unabhängigkeit auch
von den medizinischen Meinungen der betreffenden Einrichtung und einer
rigorosen richterlichen Vorabprüfung medizinischer Zwangsbehandlungen
wären die vorbezeichneten formellen Kriterien von Wert.
III. Auswirkungen
1. Die Nichtigerklärung von § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG RP
Das Bundesverfassungsgericht hat § 6 Abs. 1 S. 2 HS 1 MVollzG RP für
verfassungswidrig und nichtig erklärt, weil dieser den oben genannten
Bestimmtheits- und sonstigen Anforderungen nicht genügt. Die
Nichtigkeit erstreckt sich qua Zusammenhang auf den gesamten Satz 2 der
Vorschrift.32
Die Nichtigkeitserklärung begründet das Bundesverfassungsgericht mit
der „Schwere der Grundrechtseingriffe, zu denen die genannte Vorschrift
berechtigt. Das heißt indes, daß derzeit in Rheinland-Pfalz niemand
gegen seinen Willen in der Forensik zum Erreichen seiner
Entlassungsfähigkeit zwangsbehandelt werden darf, denn es fehlt an
einer ausreichenden Rechtsgrundlage hierfür.
2. Die geplante Neuregelung in Rheinland-Pfalz
Die Nichtigerklärung der Rechtsgrundlage für die zwangsweise
Langzeitmedikation hat zu einem Handlungsdruck auf den
rheinland-pfälzischen Gesetzgeber geführt. So hat das
rheinland-pfälzische Sozialministerium bereits am 15.04.2011
angekündigt, die Landesregierung werde die Überarbeitung des
Maßregelvollzuggesetzes zügig in Angriff nehmen.33 Der im Mai 2011
unterzeichnete Koalitionsvertrag von SPD und Grünen 2001 bis 2016 sieht
vor:
„Wir streben eine Novelle des Maßregelvollzugsgesetzes an, das aus dem
Jahr 1986 stammt, um die Patientenrechte auch im Maßregelvollzug zu
stärken. Dabei werden wir gleichzeitig die berechtigten
Sicherheitsinteressen der Bevölkerung wahren.“ 34
Zu den insofern disqualifizierten „Sicherheitsinteressen“ der
Bevölkerung im Bezug auf die Zwangsbehandlungsproblematik wurde oben
bereits hingewiesen. Es verbleibt diesbezüglich also bei einer Stärkung
der Patientenrechte im Maßregelvollzug. Entsprechende Vorschläge werden
in der vorliegenden Entscheidungsbesprechung gemacht.
3. Zwangsbehandlungen qua Akutmedikation – § 6 Abs. 1 Satz 1 HS 1 MVollzG RP
Zwangsmedikationen sind nunmehr gemäß dem weitergeltenden § 6 Abs. 1
Satz 1 HS 1 MVollzG RP nur noch bei Lebensgefahr oder schweren
Gesundheitsgefahren für den Betroffenen oder Dritte möglich. Im Grunde
bleibt damit nur die Akutmedikation legal, wobei allerdings
dahingehend Bedenken bestehen, daß unter dem Deckmantel der
Akutmedikation nunmehr versteckt Langzeitmedikationen durchgeführt
werden könnten. Im übrigen bestehen auch gegen die mit erheblichen
Gesundheitsbelastungen verbundenen Akutmedikationen und damit gegen § 6
Abs. 1 Satz 1 HS 1 MVollzG RP verfassungsrechtliche Bedenken. Es ist
diesseits schlicht nicht zu erkennen, weshalb ein während eines
psychotischen Schubs regelmäßig isolierter Patient auch noch – meist
gewaltsam – medikamentiert werden muß. Oftmals handelt es sich in praxi
auch gar nicht um psychotische Schübe sondern schlicht um
Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Patient und
Ärzteschaft, die von Letzterer zum Anlaß genommen werden, dem Patienten
einen psychotischen Schub zu unterstellen um ihn zwangsbehandeln zu
können. Auch § 6 Abs. 1 Satz 1 HS 1 MVollzG RP öffnet daher Mißbrauch
Tür und Tor.
Es ist schließlich nicht zu erkennen, weshalb das
Bundesverfassungsgericht einerseits die Sicherheitsinteressen der
Bevölkerung als Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung per se
ausscheidet,35 § 6 Abs. 1 Satz 1 HS 1 MVollzG RP, der auch eine
Zwangsmedikation bei Gefahren für Dritte zuläßt aber bestehen läßt.
Denn auch hier gilt: dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung kann
bereits durch die Unterbringung genügt werden. Auch innerhalb der
Einrichtung kann – bei einem echten Schub – der Sicherheit von
Patienten und Personal durch eine – allerdings humanen Kriterien
entsprechende – Isolierung genügt werden. Einer Zwangsbehandlung bedarf
es hierfür nicht.
Bei einer Neuregelung des Maßregelvollzugsgesetzes sollte nach
Vorgesagtem auch über die Streichung von § 6 Abs. 1 Satz 1 HS 1 MVollzG
RP sowie des untrennbar mit der diesem und der nichtigen Vorschrift in
Verbindung stehenden § 6 Abs. 3 HS 2 MVollzG RP nachgedacht werden.
4. Die Auswirkungen auf andere Länder
Auf den hier besprochenen Beschlusses haben sich bereits Patienten in
vielen deutschen Psychiatrien berufen und dementsprechend eine
Zwangsmedikation verweigert. Oft waren und sind aktuell willkürliche
Isolierungen und andere Rechtsverletzungen seitens des jeweiligen
Klinikpersonals die Folge.
Der besprochene Beschluß gilt formell nur für die rheinland-pfälzische
Regelung. Allerdings finden sich in anderen Maßregelvollzugs- und
vergleichbaren Gesetzen ganz ähnliche Regelungen. Nicht alle nennen
die Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels explizit, doch
ist diese Fallgestaltung regelmäßig implizit umfaßt. Der die
Zwangsmedikation von Maßregelpatienten regelnde § 10 des Hamburgischen
Maßregelvollzugsgesetz ist etwa übertitelt: „Behandlung zur Erreichung
des Vollzugsziels“. Damit sind offenkundig sämtliche Zwangsbehandlungen
unter Hamburger Landesrecht zur Erreichung des Vollzugsziels angelegt.
Auch ohne explizite Erwähnung gehen sämtliche einschlägigen
Ländergesetze davon aus, daß eine Zwangsmedikation außerhalb der
Akuttherapie zur Herstellung der Entlassungsfähigkeit möglich sind,
denn konkret finden derartige Medikationen in sämtlichen Bundesländern
statt. Keines dieser Gesetze entspricht den im besprochenen Beschluß
aufgestellten Bestimmtheits-, inhaltlichen und sonstigen formellen
Anforderungen. Wird eine Dauertherapie gar nicht erwähnt, gilt dies
umso mehr.
In sämtlichen Bundesländern ist daher bis zu einer evt. Neuregelung der
einschlägigen Landesgesetze eine zwangsweise Medikamentierung von
Maßregelpatienten verfassungswidrig, verboten und strafbar.
Dies gilt im übrigen erst recht für präventiv untergebrachte Patienten,
für die sich der Grundrechtseingriff mangels rechtswidriger Anlaßtat
noch grundrechtsintensiver darstellt als für Straftäter nach einem
rechtskräftigen Urteil. Im übrigen besteht in vielen Bundesländern,
etwa in Bayern oder Thüringen, eine Vermengung der
Unterbringungsgesetze mit den Maßregelgesetzen bzw. fehlt es an
eigenständigen Maßregelgesetzen. Sind aber die Regelungen der PsychKGen
oder Unterbringungsgesetze jeweils entsprechend auf Maßregelpatienten
und präventiv untergebrachte Patienten anwendbar, so kann Letzteren
nicht der verfassungsrechtliche Schutz versagt werden, der ersteren
zuteil wird. In allen Ländern wird daher auch eine Neuregelung der
Medikationsvoraussetzungen in den Präventivunterbringungen zu erwägen
sein.
Fußnoten:
1 BVerfG, Beschluß v. 23.03.2011, Az. 2 BvR 882/09, Rz. 39
2 Ebd., Rz. 44
3 Ebd., Rz. 40
4 Ebd., Rz. 44
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Ebd., Rz. 41
8 BVerfG, aaO., Rz. 46
9
Koalitionsvertrag 2011-2016, Rheinland-Pfalz, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, S. 52
10 BVerfG, aaO., Rz. 50
11 Ebd., Rz. 48
12 BVerfG, aaO., Rz. 51
13 Ebd.
14 BVerfG, aaO., Rz. 49
15 Ebd., Rz. 52 f.
16 Ebd., Rz. 55
17 BVerfG, aaO., Rz. 41
18 Ebd.
19 BVerfG, aaO., Rz. 45, 50, mwN.
20 BVerfG, aaO., Rz. 58
21 Ebd., Rz. 60
22 Ebd. Rz. 61
23 Ebd.
24 Ebd., Rz. 44
25 Ebd.
26 Ebd., Rz. 63 f.
27 BVerfG, aaO., Rz. 65
28 Ebd., Rz. 66
29 Ebd., Rz. 67
30 Ebd., Rz. 69 ff.
31 Ebd., Rz. 73
32 BVerfG, aaO., Rz. 74, 81, Tenor
33 Jürgen Müller in: Die Rheinpfalz – Südwestdeutsche Zeitung vom 16.04.2011
34 Koalitionsvertrag 2011-2016, aaO.
35 BVerfG, aaO., Rz. 46