Bundesarbeitsgemeinschaft
Psychiatrie-
Erfahrener e.V.
Nächste Mitgliederversammlung:
Dienstag, den 4.2.2025 um 17h
1. Senat
Schloßbezirk 3
76131 Karlsruhe
durch Abgabe am 21.09.2015
Karlsruhe, 21.09.2015
Mein Zeichen: 10/12
XII ZB 89/15 (BGH)
In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung
Vorlagebeschluß des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2015 zu Az. XII ZB 89/15
zeige ich an, daß mich der zur Stellungnahme aufgeforderte Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) mit der schriftsätzlichen Stellungnahme im obigen Verfahren beauftragt hat. Ordnungsgemäße Bevollmächtigung wird durch beigefügte schriftliche Vollmacht – Anlage 1 – nachgewiesen.
Namens und im Auftrag des BPE nehme ich im vorliegenden Verfahren wie folgt Stellung:
I. Jüngste Entwicklung von § 1906 BGB
Der Bundesgerichtshof hat in zwei Beschlüssen vom 20.06.2013 entschieden, daß die namentlich im Beschluß des hiesigen Gerichts zu Az. 2 BvR 882/09 aufgestellten Grundsätze auch im Betreuungsrecht gelten und § 1906 a.F. folglich mangels hinreichender Bestimmtheit und mangels Erfüllung der spezifischen verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen verfassungswidrig war (BGH, Beschluß vom 20.06.2012 zu Az. XII ZB 130/12, Rz. 16; BGH, Beschluß vom 20.06.2012 zu Az. XII ZB 99/12, Rz. 13; u.a.).
Der Bundesgesetzgeber hat in der Folge Ende Februar 2013 eine Neuregelung des § 1906 BGB geschaffen. Diese lautet:
§ 1906 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil
1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder
2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht anzuzeigen.
(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn
1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,
3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung seiner Pflichten verhindert ist.
(3a) Die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Der Betreuer hat die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme zu widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat den Widerruf dem Betreuungsgericht anzuzeigen.
(4) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.
(5) Die Unterbringung durch einen Bevollmächtigten und die Einwilligung eines Bevollmächtigten in Maßnahmen nach den Absätzen 3 und 4 setzen voraus, dass die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die in den Absätzen 1, 3 und 4 genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst. Im Übrigen gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.
II. Zwangsbehandlung, § 1906 Abs. 3 BGB n.F.
Definition:
Nach der Definition des hiesigen Gerichts – im hier streitgegenständlichen § 1906 Abs. 3 BGB auch als Legaldefinition aufgenommen – ist eine Zwangsbehandlung eine
„medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen.“1
Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die Betroffene zwangsbehandelt werden soll, § 1906 Abs. 3 BGB also hier einschlägig ist.
III. Grundsätzliche Betrachtung: Gleichheitsverletzung bei genereller Verfassungswidrigkeit oder Nichtigkeit jeder Art von Zwangsbehandlung?
Gemäß Art. 3 Abs. 1 GG gilt:
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
Eine Verletzung dieses Allgemeinen Gleichheitssatzes liegt bekanntlich vor, bei einer Ungleichbehandlung, also der unterschiedlichen Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte. Voraussetzung ist daher eine Vergleichspaarbildung.
Zum anderen setzt eine Verletzung des Allgemeinen Gleichheitssatzes auch voraus, daß es zu einer Beeinträchtigung, einer Benachteiligung gekommen ist.
1. Vorbetrachtung zum Tatbestand des Art. 3 Abs. 1 GG
a) Vergleichspaarbildung
Die Instanzen, bis hinauf zum BGH waren davon ausgegangen, daß es vorliegend um immobile Betroffene, die zum Weglaufen nicht in der Lage seien (oder dies gar nicht wollten), gegenüber mobilen Betroffenen, die eines solchen Weglaufens fähig sind, gehe. Dies ergibt sich aus dem beim BGH anhängigen Fall.
b) Ungleichbehandlung
Das gebildete Vergleichspaar wird auch unterschiedlich behandelt. Der BGH hat die historische Entwicklung von ambulanter und stationärer Zwangsbehandlung dargelegt. Der Gesetzgeber wollte hier bewußt eine Unterscheidung schaffen und die Möglichkeiten der Zwangsbehandlung aus Verhältnismäßigkeits- und Praktikabilitätserwägungen heraus einschränken, nicht nur im Reformverfahren 2005, sondern auch in jenem 2013.2
Der BGH hat weiter ein Festhalten am engen Unterbringungsbegriff bekräftigt, was sich auch vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Einschränkung der Möglichkeit von Zwangsbehandlungen in historischer und teleologischer Auslegung als richtig erweist. Eine Ausdehnung von Abs. 3 und Abs. 3a auf die ambulante Zwangsbehandlung scheidet daher auch nach hiesiger Ansicht aus.
Geht man nun von diesem engen Unterbringungsbegriff aus, so stellt das bloße Verbringen eines Menschen in eine – nicht geschlossene – Klinik keine Unterbringung dar. Unterbringung ist danach nur eine freiheitsentziehende, mithin geschlossene, stationäre Verbringung. Insofern werden immobile Betroffene und mobile Betroffene in der Tat ungleich behandelt, da ein weglaufunfähiger Mensch oder auch ein Mensch, der nicht weglaufen will, auch nicht daran gehindert, sprich geschlossen untergebracht werden muß.
c) Benachteiligung
Sehr viel schwieriger ist allerdings die Frage der Benachteiligung des Vergleichspaars zu beantworten und auch die Frage welcher Teil des Vergleichspaars gegebenenfalls benachteiligt wird.
aa) Verbringung und Behandlung ohne Unterbringung
Eine Verbringung einer gehunfähigen Person in eine stationäre Behandlung ist nämlich nicht schlechterdings ausgeschlossen. Es handelt sich dann zwar nicht um eine Unterbringung iSd. § 1906 Abs. 1 BGB, aber es kann sich durchaus um eine Verbringung gegen den Willen der Betroffen handeln. Allerdings ist § 1906 BGB als Rechtsgrundlage für eine solche Verbringung nicht einschlägig. Eine solche Verbringung wäre indes selbst durchaus grundrechtsintensiv, da sie zumindest in die Grundrechte der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit und auf Freizügigkeit eingriffe. Sie bedürfte daher einer Rechtsgrundlage. In Ermangelung einer solchen, wäre eine Benachteiligung des einen oder anderen Teils des Vergleichspaars prinzipiell denkbar, weil dem einen Teil eine Behandlung zuteil wird und dem anderen nicht oder das eine vor einer Behandlung geschützt wird und das andere nicht.
bb) Benachteiligung welches Teils des Vergleichspaars?
Das Beschwerdegericht hatte ausweislich des Vorlagebeschlusses3 die – zutreffende – Auffassung vertreten, daß es sich bei § 1906 Abs. 3 BGB um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff und damit nicht um eine Bevorzugung handelt. Das Vorenthalten eines solchen schwerwiegenden Grundrechtseingriffs ist selbstverständlich keine Benachteiligung sondern eher umgekehrt eine Bevorzugung.
Eigentlich ist diese Frage so klar, daß sie keiner weiteren Ausführungen bedarf. Da der BGH jedoch rechtsirrig und menschenrechtlich höchst bedenklich hier eine abweichende Ansicht vertritt, muß dem doch hier nochmals mit der nötigen Entschiedenheit entgegengetreten werden:
Der BGH gründet seine Haltung zunächst auf eine Unterstellung, indem er ausführt:
„Rechtsbeschwerderechtlich ist zudem zu unterstellen, dass der erhebliche gesundheitliche Schaden – hinsichtlich der Krebserkrankung, der letztlich tödliche Verlauf – durch keine andere der Betroffenen zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BGB) und der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartende Beeinträchtigung deutlich überwiegt (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BGB).“4
Es ist schon äußerst bedenklich, daß der Bundesgerichtshof mit Unterstellungen arbeitet. Noch bedenklicher ist es, daß er mit Sachverhaltsunterstellungen arbeitet, obgleich er selbst betont, daß für Sachverhaltsklärung der Tatrichter zuständig ist. Das Tatgericht, namentlich das Beschwerdegericht, war aber augenscheinlich zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen von § 1906 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 4 und 5 gekommen als der BGH. Weshalb maßt sich daher der BGH an, diese Tatfrage durch reine Unterstellungen abweichend vom Beschwerdegericht zu beurteilen? Im Verhalten des BGH wird in diesem Fall richterliche Willkür gesehen, die sowohl Art. 20 Abs. 3 GG verletzt als auch Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Auf der Grundlage dieser Willkürhaltung kann die weitere Haltung des BGH nicht überzeugen, in der Zwangsbehandlung liege auch eine Begünstigung und daher sei deren Nichtregelung für bestimmte Fälle die Verletzung einer Schutzpflicht und mithin gesetzgeberisches Unterlassen. Schon ist nicht zu erkennen, inwiefern die Verstümmelung einer Frau zur Erhaltung von deren Gesundheit beitragen würde, das krasse Gegenteil ist doch der Fall. Auch eine Verringerung und Beseitigung von Krankheiten hierdurch ist mehr als fraglich, was unten im einzelnen noch zu erörtern ist. Entscheidend ist aber doch, daß es sich bei § 1906 BGB eindeutig um eine höchst eingreifende Rechtsgrundlage handelt, die nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung des hiesigen Gerichts und aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst geschaffen worden war. Die Zwangsbehandlungsrechtsprechung fußte doch gerade auf der namentlich in 2 BvR 882/09 eingehend erörterten Grundrechtsintensität einer Zwangsbehandlung. Weder bei 1906 BGB noch bei den §§ 1896 ff. BGB insgesamt handelt es sich daher um „begünstigende“ Vorschriften. Es handelt sich vielmehr systematisch und inhaltlich um Eingriffsgrundlagen.
Damit liegt im Ergebnis möglicherweise durchaus eine Benachteiligung durch § 1906 Abs. 3 BGB vor, jedoch keine Benachteiligung der Gruppe der Weglaufunfähigen sondern eine Benachteiligung der Weglauffähigen. Denn nur die letzte Gruppe riskiert eine Zwangsbehandlung. Mobile Menschen werden damit gegenüber Immobilen durch § 1906 Abs. 3 BGB benachteiligt.
d) Sachlicher Grund für die Benachteiligung mobiler Menschen gegenüber immobilen Menschen?
Ein sachlicher Grund für die vorbezeichnete Benachteiligung ist nicht erkennbar.
Zudem kann sich eine besondere Rechtswidrigkeit dieser Benachteiligung daraus ergeben, daß § 1906 Abs. 3 BGB n.F. insgesamt verfassungswidrig ist, weil er die Anforderungen an eine Rechtsgrundlage für medizinische und psychiatrische Zwangsbehandlungen insgesamt nicht erfüllt. Denn eine insgesamt rechtswidrige oder nichtige Rechtsgrundlage darf gegen niemanden als Rechtfertigung einer Körperverletzung angewandt werden.
§ 1906 Abs. 3 BGB n.F. ist in seiner heutigen Fassung nicht verfassungskonform und – nach dem was wir aus dem Beschluß des hiesigen Gerichts vom 23.03.2011 zu Az. 2 BvR 882/09 wissen – vermutlich auch nichtig.
Das hiesige Gericht hat in diesem Grundsatzbeschluß die Nichtigkeit der alten Zwangsbehandlungsrechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 S. 2 HS 1 Maßregelvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz festgestellt. Diese Wertung hat das Gericht in seinen Beschlüssen vom 12.10.2011 zu Az. 2 BvR 633/11 und vom 20.02.2013 zu Az. 2 BvR 228/12 für entsprechende Regelungen in Baden-Württemberg und Sachsen bestätigt. Der Bundesgerichtshof hat dieselbe Auffassung, wie gesehen, für den hier einschlägigen § 1906 BGB a.F. vertreten, ohne daß es allerdings bislang zu einer verfassungsgerichtlichen Prüfung dieser betreuungsrechtlichen Rechtsgrundlage für medizinische und psychiatrische Zwangsbehandlungen gekommen wäre. Die einschlägigen alten Rechtsgrundlagen konnten somit nicht mehr angewendet werden.
Zwar existiert inzwischen eine Neufassung von § 1906 BGB. Doch ist diese ebenfalls verfassungswidrig oder sogar nichtig, da Zwangsbehandlungen, sprich Körperverletzungen ohne Einwilligung oder Genehmigung des Betroffenen, generell nicht verfassungsrechtlich rechtfertigbar sind. Hilfsweise genügt § 1906 Abs. 3 BGB n.F. auch nicht den durch das hiesige Gericht aufgestellten Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen.
Zunächst muß daher die Vorfrage geklärt werden, ob § 1906 Abs. 3 BGB n.F. schon als solcher verfassungswidrig oder ggf. sogar nichtig ist.
2. Völkerrechtswidrigkeit von Zwangsbehandlungen – Mendez-Bericht vom 01.02.2013
Der VN-Sonderberichterstatter über Folter Juan Méndez führte in seinem vorbezeichneten Bericht aus, daß
„alle Staaten ein absolutes Verbot aller medizinischen nicht einvernehmlichen bzw. Zwangsbehandlungen von Personen mit Behinderungen verhängen sollten, einschließlich nicht-einvernehmlicher Psychochirurgie, Elektroschocks und Verabreichung bewusstseinsverändernder Drogen, sowohl in lang- wie kurzfristiger Anwendung. Die Verpflichtung, erzwungene psychiatrische Behandlung wegen einer Behinderung zu beenden, ist sofort zu verwirklichen und auch knappe finanzielle Ressourcen können keinen Aufschub der Umsetzung rechtfertigen.“5
Seine Argumente baut Mendez auf einer Neubetrachtung der Folterdefinition des Art. 1 VN-Folterkonvention (der auch für die Beurteilung des Folterbegriffs in Art. 3 EMRK von Bedeutung ist) auf:
Elemente der Folter sind gemäß Art. 1 VN-Folterdefinition:
- Zufügung schwerer Schmerzen oder schweren Leids, physisch oder psychisch,
- Vorsatz,
- Beteiligung eines staatlichen Repräsentanten,
- Folter-Motive
Die ersten drei Elemente sind bei der hier inmitten stehenden Zwangsbehandlung, einer Verstümmelung durch Brustamputation, ohne weiteres zu bejahen.
Foltermotive können – nicht erschöpfend – sein:
- Geständniserpressung
- Informationsgewinnung
- Bestrafung
- Einschüchterung und Zwang
- Diskriminierung
a) Einschüchterung und Zwang
Zwar scheiden im konkreten Fall die ersten drei Motive aus. Motiv 4 ist aber zu bejahen namentlich bei Non-Compliance hinsichtlich der Krankheit und / oder der avisierten Behandlung / Medikation der Betroffenen. Ein Aufoktroyieren einer Meinung, auch einer herrschenden medizinischen, ist Zwang. Erfolgt dieser Zwang mit der Drohung, diese Meinung auch mit Gewalt durchzusetzen, so handelt es sich auch um Einschüchterung.
Genau so liegt der Fall hier: die Betroffene weigert sich, sich der herrschenden medizinischen Auffassung unterzuordnen und sich durch die Chirurgie verstümmeln und entstellen zu lassen, weil die Ärzte dies so wünschen und für angebracht halten. Durch die Betreuerin und die behandelnden Ärzte wurde versucht, die Betroffene einzuschüchtern, diese eingreifende Mißhandlung über sich ergehen zu lassen, sich auch gegen ihren Willen verstümmeln zu lassen.
Hierbei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Betroffene ihre Entscheidung vollumfänglich freiverantwortlich getroffen hat und vollumfänglich einsichtsfähig ist. Denn auch der natürliche Wille eines an sich einsichtsunfähigen Betroffenen ist bei der Frage der Rechtfertigbarkeit einer Zwangsbehandlung zu berücksichtigen. Dies muß schon deshalb gelten, weil die Grenzen der Einsichtsfähigkeit praktisch nicht zu bestimmen sind. Wie soll festzustellen sein, ob jemand krankheitsbedingt in seinem Wollen so eingeschränkt ist, daß er deshalb nicht zustimmen kann? Aufgrund welcher Kriterien ist nachweisbar, daß die Person nicht Gründe für ihre ablehnende Haltung hat, sondern daß diese Haltung durch eine Krankheit verursacht wird? Wie soll die „Krankheitsuneinsichtigkeit“ zum Beispiel bei einer Person festgestellt werden, die die Krankheit leugnet, möglicherweise aufgrund ihrer Grundüberzeugung – die auch der Unterzeichner teilt – daß es psychiatrische Erkrankungen überhaupt nicht gibt? Meinungen sind jedoch gemäß Art. 5 Abs. 1 Alt. 1 GG geschützt und nicht ohne weiteres pathalogisierbar.
Wie soll festgestellt werden können, wann ein Betroffener ausreichend zwangstherapiert wurde, um wieder einwilligen zu können? Wie soll dafür der Zeitpunkt bestimmt werden, vor allem dann, wenn der Betroffene schweigt und so sein Inneres verhüllen sollte? Aus einem Schweigen kann ja nicht die Rechtfertigung einer fortgesetzten Körperverletzung konstruiert werden, denn das wäre die “stumpfe” Gewalt schlechthin.
Unterstellt, die Feststellung der „krankheitsbedingten Krankheitsuneinsichtigkeit“ wäre sicher möglich, was ist dann, wenn der Betroffene nach der erzwungenen Wiedererlangung seiner Einwilligungsfähigkeit feststellt, daß er immer noch nicht behandelt werden will und eine Behandlung freiverantwortlich weiter ablehnt, sei es weil er seine Freiheit zur Krankheit6 in Anspruch nehmen will, sei es aus anderen Gründen? Die zur Wiederherstellung der Einsichtsfähigkeit zuvor erfolgte Behandlung erwiese sich dann im Nachhinein als eine Mißhandlung, als eine strafbare Körperverletzung.
Hier besteht daher die Gefahr, daß die Behandelnden einen solchen Zustand gar nicht erst entstehen lassen, sondern den Betroffenen so lange weiter zwangsbehandeln, bis dieser schließlich in die Behandlung einwilligt und eingesteht, daß er sich zuvor geirrt habe. Es entsteht genau jene Drucksituation, die für Mendez ein Foltermotiv darstellt.
Die „Einsichtsfähigkeit“ nur durch die direkt oder indirekt betroffenen Psychiater festlegen zu lassen, führt daher nicht zu einer objektiven Bestimmung der Grenzen der Einsichtsfähigkeit. Das Gericht hat zudem entschieden, daß es insofern keine „Vernunfthoheit“ des Staates geben kann,
„dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseitegesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint […]. Auf eine eingriffslegitimierende Unfähigkeit zu freier Selbstbestimmung darf daher nicht schon daraus geschlossen werden, dass der Betroffene eine aus ärztlicher Sicht erforderliche Behandlung, deren Risiken und Nebenwirkungen nach vorherrschendem Empfinden im Hinblick auf den erwartbaren Nutzen hinzunehmen sind, nicht dulden will. Erforderlich ist eine krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit oder Unfähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten.“7
Die bloße Wiederherstellung der Einsichtsfähigkeit des Betroffenen wäre nach dieser Rechtsprechung des Gerichts aus hiesiger Sicht nicht ausreichend als Rechtfertigungsgrund für eine Zwangsbehandlung. Die Freiheit der Einzelnen ist insofern ein höheres Gut als die nicht tragsicher feststellbare Einsichtsfähigkeit.
Hierzu ist im konkreten Fall zu bemerken, daß es sich bei der Meinung der Ärzte, die Betroffene benötige dringend eine Brustamputation lediglich um eine Meinung handelt. Es ist keineswegs so, daß die Betroffene objektiv eine solche Verstümmelung benötigt. Es ist schon nicht gesichert feststellbar, ob die Betroffene tatsächlich an Krebs leidet bzw. Krebs hat. Selbst wenn dies aber so sein sollte, so ist der Erfolg einer Brustamputation zur Behandlung der Erkrankung der Betroffenen keineswegs erwiesen. Krebszellen sind hartnäckige Zellen, die auch unsichtbar im Organismus verbleiben können, wenn Teile des Organismus abgetrennt werden. Es dürfte allgemeinbekannt sein, daß der Erfolg chirurgischer Krebsbehandlungen daher alles andere als gesichert ist. Diese Behandlungen stellen lediglich Heilungschancen dar, keine garantierten Heilungen. Spezialisten des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg vertreten bereits die Auffassung, daß die herkömmlichen Behandlungsmethoden von Krebserkrankungen – OP, Chemotherapie – nur minimale Heilungschancen bürgen und im Ergebnis letztlich nichts brächten. Im DKFZ ist man deshalb derzeit dabei bei Mäusen körpereigene Krebskampfzellen zu züchten, die zur sicheren Reduktion von Krebszellen bis auf 0 führen.
Vor dem Hintergrund des aktuell doch noch arg steinzeitlichen Standes der Krebsforschung, ist daher die Auffassung der Betroffenen, sich keiner dieser steinzeitlichen Be- oder besser Mißhandlungsformen zu unterwerfen, durchaus nachvollziehbar und rational. Der Unterzeichner würde, ebenso wie viele aufgeklärte Menschen in diesem Land, in ihrer Situation nicht anders handeln. Der Unterzeichner erinnert sich insofern daran, daß seine Mutter vor einigen Jahren einen Tumor aus ihrer Brust entfernen ließ und anschließend bekundete, sich einer solchen Operation keinesfalls nochmals zu unterziehen. Umgekehrt würde aus hiesiger Sicht eine Zustimmung der nicht einsichtsfähigen Betroffenen auf eine Eigengefährdung iSd. § 1906 Abs. 1 BGB hinauslaufen. Es darf nicht vergessen werden, daß auch jede Zustimmung eines Einsichtsunfähigen zu einem ärztlichen Eingriff eine Eigengefährdung darstellt. Ärztliche Operationen des Ausmaßes, das hier inmitten steht, sind stets lebensgefährlich, zumal bei einer schwerkranken Person vorgerückten Alters. Wie aber will man die Einwilligung einer psychisch Kranken Person in eine Operation als unbedenklich ansehen, deren Verweigerung jedoch als Selbstgefährdung werten. Birgt nicht das aktive Tun, der Eingriff, zu allervörderst eine Gefährdung, nicht das Unterlassen?
Die Frage ob sich ein Mensch behandeln läßt oder nicht, verlangt die Abwägung einer Vielzahl von Faktoren, die meist den behandelnden Ärzten und auch Betreuungspersonen mangels hinreichender Information und Kenntnis ihrer Patienten sowie eines gewissen medizinischen Tunnelblicks gar nicht alle bekannt sind. So sind die Lebenseinstellung, Religion, familiäre Situation, das Alter, der sonstige Gesundheitszustand, die berufliche Situation, die öffentliche Stellung und das soziale Wirken einer Person für die Abwägung Pro und Contra einer Behandlung von ebensolcher Bedeutung wie die medizinischen Erfolgsaussichten. Letztere sind nur ein Element der Entscheidungsfindung und keineswegs das entscheidende.
Nur der Betroffene selbst kann sich daher letztlich für einen verletzenden, eingreifenden und lebensprägenden Eingriff entscheiden. Es bleibt Ärzten und Justiz verwehrt, dem Einzelnen diese lebensprägende Entscheidung abzunehmen. Kann der Betroffene die Entscheidung nicht treffen, so kann sie niemand treffen. Selbst wenn man in diesem Fall der Auffassung wäre, der mutmaßlich Wille der Betroffenen sei zu ermitteln, so wären doch die anderen Umstände genauer zu betrachten. Nach alledem was hier bekannt ist, befindet sich die Betroffene in einer psychisch wie physisch prekären Lage. Eine Heilung erscheint äußerst fraglich. Die Betroffene trägt augenscheinlich keine soziale Verantwortung für Dritte mehr, übt keinen Beruf mehr aus und wird einen solchen wohl auch nicht mehr ausüben. Sie hat keine Lebensaufgabe mehr und ist vorgerückten Lebensalters. All diese Aspekte mögen bei ihrer Entscheidung eine Rolle gespielt haben und lassen vermuten, daß die Betroffene aus nachvolziehbaren Gründen keine Brust-Amputation wünscht. Dies ist zu respektieren. Eine fehlende Respektierung dieser Umstände erfüllt ohne weiteres das Merkmal des Zwangs.
b) Diskriminierung Behinderter
Mendez fokussiert sich in seinem Bericht weiter ganz entscheidend auf das fünfte Foltermotiv, die Diskriminierung. Die Andersbehandlung Behinderter stellt nach Mendez regelmäßig eine Diskriminierung dar und erfüllt somit ein Foltermotiv iSd. Art. 1 VN-Folterkonvention. Da nach bisheriger Auffassung auch psychiatrisierte Menschen unter den Behindertenbegriff der VN-Behindertenrechtsrahmenkonvention subsummiert werden müssen, stellt die Andersbehandlung psychiatrisierter Menschen, gegenüber nicht psychiatrisierten Menschen regelmäßig eine Diskriminierung dar. Die Nichtachtung des Willens der Betroffenen ist daher eine Diskriminierung im oben genannten Sinne und erfüllt, nachdem alle anderen Voraussetzungen regelmäßig vorliegen, den Folterbegriff. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß die Betroffene doppelt behindert ist, einmal als psychiatrisierte Person und einmal aufgrund ihrer multiplen somatischen Erkrankungen, namentlich ihrer schweren Krebserkrankung. Die Betroffene wird gerade wegen ihrer psychischen Diagnose und wegen ihrer Krebserkrankung der hier zu bewertenden Druck- und Zwangsituation seitens Betreuerin und Ärzten ausgesetzt. Sie wird mithin wegen ihrer Behinderung diskriminiert.
Mendez setzt sich sodann in seinem Bericht mit möglichen Rechtfertigungsmöglichkeiten auseinander und bejaht diese sehr restriktiv zusammengefaßt wie folgt:
- Psychiatrische Langzeitbehandlung: Mendez, nein
- Psychiatrische Akkutbehandlung: Mendez, unter engen Voraussetzungen, ja, wenn
– keine Möglichkeit der eigenen Willensbildung – Bewußtlosigkeit besteht,
– andere eng definierte Umstände vorliegen oder
– Eigen- oder Fremdgefährdung besteht.
Der Bericht des VN-Folterbeauftragten bezieht sich auf medizinische Behandlungen aller Art nicht nur in psychiatrischen, sondern auch anderen Gesundheitssettings („health-care settings“)8. Die obige Systematik ist somit keineswegs nur auf die – eingreifenden – psychiatrischen oder psychopharmakologischen Behandlungen beschränkt. Langzeitbehandlungen – und hierunter fällt nach hiesiger Auffassung auch eine Krebsbehandlung mit dauerhaften physischen Folgeschäden – gegen den Willen des Betroffenen können demnach nicht gerechtfertigt werden, erst recht nicht wenn sie, wie hier, besonders schwere physische Eingriffe bedingen, die sogar zur Verstümmelung und Entstellung des Betroffenen führen.
Akkutbehandlungen, wie etwa die Behandlung eines Kreislaufkollapses oder eines Herzstillstands bei einer bewußtlosen Person, könnten hingegen nach Mendez durchaus gerechtfertigt werden.
Nach dem Mendez-Bericht scheidet daher eine Zwangsbehandlung der Betroffenen nach § 1906 Abs. 3 BGB aus. Der Mendez-Bericht stellt zwar keine völkerrechtliche Regel dar. Er fällt jedoch unter den Begriff der Völkerrechtsquelle (Art. 38 lit. d) IGH-Statut) und wird bei der Auslegung des Art. 1 VN-Folterkonvention künftig zu berücksichtigen sein. Da diese Vorschrift wiederum maßgeblich für den Folterbegriff in Art. 3 EMRK ist, macht es Sinn, die Mendez-Position auch jetzt schon im Rahmen deutscher Rechtsprechung und Gesetzesregelungen zu berücksichtigen. Denn eine Mißachtung des menschenrechtlichen Völkerrechts als ius cogens ist immer auch eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG. Insofern muß bei der Frage, ob § 1906 Abs. 3 BGB verfassungskonform ist oder nicht im Rahmen der völkerrechtskonformen Auslegung auch der Mendez-Bericht berücksichtigt werden.
Demnach ist eine völkerrechtskonforme Auslegung der besagten Vorschrift aber nicht möglich. Denn § 1906 Abs. 3 BGB enthält keine der im Mendez-Bericht genannten Mindestvoraussetzungen für eine Zwangsbehandlung. Insbesondere trifft er keine Unterscheidung zwischen Langzeit- und Akkutbehandlung. Er verbietet – ebensowenig wie das veraltete deutsche Strafrecht – Folter überhaupt nicht. Die zu untersuchende Vorschrift ist mangels Auslegungsfähigkeit daher schon wegen Verstoßes gegen das Folterverbot im Völkerrecht verfassungswidrig.
Auch nach bestehendem deutschem Recht ist aus hiesiger Sicht eine Zwangsbehandlung jedoch nicht verfassungsrechtlich rechtfertigbar, da sie in jedem Falle unverhältnismäßig ist. Dies wird nachfolgend ausführlicher begründet.
3. Unverhältnismäßigkeit medizinischer Zwangsbehandlung in Form einer Verstümmelung
a) Kein hinreichend legitimer gesetzgeberischer Zweck für eine Regelung von Zwangsbehandlungen, die den Tatbestand einer schweren Körperverletzung erfüllen
§ 1906 BGB bezweckt nach seinem Wortlaut den Schutz des Lebens und der Gesundheit des Betroffenen, wobei nur erhebliche Gefahren für die Gesundheit verhältnismäßigerweise unter Schutz gestellt worden sind.
Hier ist grundsätzlich festzustellen, daß es ein Grund- und auch ein Menschenrecht auf Selbstschädigung und auch auf Suizid gibt. Für die Selbstschädigung wurde dies auch höchstrichterlich anerkannt9, für die Selbsttötung existiert bis dato zwar keine höchstrichterliche Entscheidung in Deutschland10, ein entsprechendes Grundrecht ist jedoch heute herrschende Meinung11 und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Artikel 8 EMRK im übrigen anerkannt12.
Ein Schutz des Lebens des Betroffenen selbst ist daher – jedenfalls heutzutage – kein hinreichend legitimer gesetzgeberischer Zweck für erheblich grundrechtsintensive Regelungen mehr.
Dasselbe gilt vor dem Hintergrund der bekannten und zitierten Rechtsprechung auch des hiesigen Gerichts für den Schutz der Gesundheit. Ohnehin ist zu fragen ob ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit durch eine gesetzliche Regelung geschützt werden kann, die gerade eine Körperverletzung erlaubt. Jede medizinische Behandlung ist eine Körperverletzung. Damit steht im Behandlungsfall unter Umständen Gesundheit gegen Gesundheit. Ist es aber legitim, eine Körperverletzung mit dem Vorwand zu erlauben, man wolle die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen schützen?
Verfassungsrechtlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß dies nicht so ist. Denn im Behandlungsfall geht es im Ziel des Eingriffs gar nicht um den Schutz einer körperlichen Unversehrtheit, sondern um den Kampf gegen eine Krankheit. Es ist aber ein Unterschied, einen – gesunden oder kranken – Körper vor Eingriffen zu schützen und einen bereits kranken Körper zu heilen. Das Grundgesetz enthält ein Verbot der Körper- und Gesundheitsverletzung. Es enthält kein Gebot der Heilung. Die Grundrechtsordnung ist und bleibt im Kern eine Abwehrordnung gegen hoheitliche Eingriffe. Sie kann und darf keine Bevormundungsordnung sein. Selbst wenn man die Existenz sog. Grundpflichten annähme, so gingen diese nicht soweit, daß dem Einzelnen eine Pflicht aufgebürdet werden dürfte, sich nach der herrschenden schulmedizinischen Meinung behandeln zu lassen.
Hinzu tritt, daß diese Behandlung ja stets selbst in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingreift. Dies läßt die Legitimität einer solchen Grundpflicht noch viel fragwürdiger erscheinen. Soll ein Mensch allen Ernstes zum Zwecke eines angeblichen – in praxi aber höchst fraglichen – Gesundheitsschutzes eine Körperverletzung, eine Verstümmelung oder gar seinen Tod erdulden müssen?
In der Gesamtbewertung folgt aus vorstehenden Überlegungen, daß es für zwangsweise Körperverletzungen, namentlich solche, die den Tatbestand des § 225 StGB erfüllen, keinen hinreichend legitimen gesetzgeberischen Grund gibt. Damit fehlt es für § 1906 Abs. 3 BGB n.F. bereits an einem solchen, verfassungsrechtlich erforderlichen, hinreichenden gesetzgeberischen Zweck und die inkriminierte Vorschrift ist schon deshalb unverhältnismäßig.
b) Zweifel an der Geeignetheit der Zwangsbehandlung zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit bei erheblicher Gefährdung
Es bestehen ferner Zweifel daran, daß die Behandlung eines Kranken mit Nötigungs- und Gewaltmitteln seiner Gesundheit dienlich sein kann. Nach menschlicher Logik dürfte doch das krasse Gegenteil der Fall sein. Der menschliche Organismus ist ein komplexes Gebilde, ein Zusammenspiel von Körperfunktionen, Geist, Psyche und Biochemie. Die genauen Zusammenhänge und Zusammenspiele sind der heutigen Medizin nach wie vor nicht bekannt.
Im Falle psychiatrisierter Menschen gewinnt die psychische Instabilität zudem eine besondere Bedeutung auch im Hinblick auf somatische Erkrankungen. Gerade ein Mensch, der – wie viele psychiatrisierte Fälle – in einer besonderen Streßlage ist, besonders sensibilisiert worden ist, Opfer von intensiver Diskriminierung war oder sich aus sonstigen Gründen streßbedingt verrannt hat oder sich in einer Situation außergewöhnlicher Wut befindet, wird durch weiteren Streß – den Gewalt und Nötigung ohne vernünftigen Zweifel erzeugen – gewiß nicht milder gestimmt werden. Sein Streß wird sich durch solche „Maßnahmen“ in grenzwertige Bereiche steigern und sich im Zweifel auch somatisch nachteilig auswirken, krank- nicht gesundmachend wirken. Dies ist gerade bei Krebspatienten zu berücksichtigen, bedingt doch Streß das Wachstum, nicht die Schrumpfung von Krebszellen.
Eine zwangsweise Behandlung hat daher im Grunde zwei negative Effekte:
Sie verschärft die soziale und/oder medizinische Grundproblematik.
Sie verdeckt die dringend notwendige Symptomatik, die Alarmzeichen für 1. ist.
Positive Effekte können hier hingegen nicht erkannt werden. Damit fehlt es an einer Geeignetheit medizinischer Zwangsbehandlung für die Heilung schon vorhandener Krankheiten.
Allein das Prinzip selbstverantwortlicher Selbstschädigung verbietet daher jegliche Form medizinischer oder auch psychiatrischer Zwangsbehandlung.
c) Keine Erforderlichkeit der psychiatrischen Zwangsbehandlung
Es bestehen weiter Zweifel daran ob die Zwangsbehandlung von Menschen überhaupt noch notwendig ist. Denn auch mangels Notwendigkeit wäre sie auch verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen, da unverhältnismäßig.
aa) Zweifelhafte Heilungschancen
Nach den, bereits oben angesprochenen, Zweifeln an der positiven Wirkung einschneidender chirurgischer Behandlungen bei einer Krebspatientin – zum einen aufgrund der zweifelhaften Heilungsaussichten, zum anderen aufgrund des Risikos noch mehr zu erkranken und sogar zu sterben – ist die Notwendigkeit solcher Eingriffe außerordentlich fraglich. Letztlich ist es Sache des Gerichts hier eine Abwägung vorzunehmen.
bb) Die Erforschung des Willens des Betroffenen
Zwangsbehandlungen werden regelmäßig auch deshalb nicht notwendig sein, da sich der Wille des Betroffenen regelmäßig erforschen lassen wird.
Der VN-Folterbeauftragte Mendez hat den Grundsatz des Behandlungskonsenses zwischen Patient und Behandler betont: Der Wille des Patienten ist zentral.
Diesen Willen zu erforschen wird daher in Zukunft erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen anstelle des heutigen, oft überheblichen und besserwisserischen Zwangs seitens Medizin und Psychiatrie. Der Bundesgesetzgeber hat dem durch eine verstärkte Pflicht zur Berücksichtigung der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht bereits Rechnung getragen. Diese antizipierenden Willenserklärungen sind von zentraler Bedeutung für die Erforschung des mutmaßlichen Willens des Patienten.
Aber auch die Beachtung schlüssigen Verhaltens und die Aussagen nahestehender Personen werden künftig bei der Frage ob Eingriffe erfolgen oder nicht mehr Berücksichtigung finden müssen.
An der Verfassungsmäßigkeit von § 1906 Abs. 3 BGB aktueller Fassung bestehen auch deshalb Zweifel, weil diese Vorschrift die Zwangsbehandlung in keinster Weise an die Erforschung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen knüpft und namentlich keinen Verweis auf § 1901a BGB (Beachtung einer Patientenverfügung) enthält.
d) Zwangsbehandlung nicht angemessen
Die Zwangsbehandlung eines Menschen ist aber auch deshalb unverhältnismäßig, weil sie nicht angemessen ist.
aa) Rechtsstaatliche Bedenken gegen Behandlung aufgrund fragwürdiger Krankheitsbilder und unklarer Diagnosen
Jedwede medizinische Diagnosestellung ist, gelinde gesagt, extrem fehleranfällig und stellt letztlich immer nur eine Vermutung dar. Bereits die auf solche Verdachtsdiagnosen gestützte medizinische Behandlung – mit Einverständnis des Patienten – begegnet rechtsstaatlichen Bedenken. Dies gilt erst recht, wenn die Behandlung gegen seinen Willen erfolgen soll.
bb) Unangemessenheit physisch entstellender Zwangsbehandlung aufgrund ihrer Eingriffsintensität
Eine medizinische Behandlung, die, wie oben dargestellt, den Körper eines Menschen erheblich verändert, ihn verstümmelt und entstellt, dem betroffenen Menschen schwere Schmerzen zufügt, ihn in einen Schockzustand versetzt, ist zweifelsohne – ähnlich einem psychiatrischen Zwangsbehandlungseingriff – von erheblicher Intensität. Auch ein rein körperlicher Operations-Eingriff kann persönlichkeitsverändernd wirken, wenn er dem betreffenden Menschen einen Teil seiner physischen Identität nimmt. Es wird insofern an die Rechtsprechung des hiesigen Gerichts zur Körper-Seele-Geist-Einheit des Menschen unter Art. 1 GG erinnert. Dies gilt erst recht dann, wenn die Operation, wie hier, jedenfalls teilweise geschlechtsverändernd wirkt, da dann zusätzlich auch die sexuelle Identität des / der Betroffenen verändert wird. Werden einer Frau äußere weibliche Geschlechtsorgane wie die Brüste entfernt, so wirkt eine solche Operation jedenfalls zum Teil geschlechtsverändernd und greift somit auch in ihr Grundrecht auf sexuelle Identität in einer äußerst intensiven Weise ein.
Verglichen mit der Eingriffsintensität, die das Gericht bei psychopharmakologischen Eingriffen festgestellt hat13, läßt sich der hier avisierte Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen qualitativ und quantitativ durchaus vergleichen.
Das Gericht hat in seinem Grundsatzbeschluß vom 23.03.2011 zudem die auch hier anwendbaren folgenden Punkte hervorgehoben:
- „Der Betroffene wird genötigt, eine Maßnahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt (…).“14
- „Ein von anderen Menschen gezielt vorgenommener Eingriff in die körperliche Integrität wird umso bedrohlicher erlebt werden, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sieht.“15
Bei einer derartigen Eingriffsintensität körper- und geschlechtsmodifizierender chirurgischer Behandlung läßt sich eine Angemessenheit, jedenfalls in einem Rechtsstaat, aber kaum mehr begründen. Die Veränderung des Körpers, des Geschlechts und damit auch der Persönlichkeit von Menschen gegen dessen Willen, zu welchem Zweck auch immer sie erfolgen mag, muß vielmehr stets als ein Instrument totalitärer staatlicher oder quasistaatlicher Systeme angesehen und in einem Rechtsstaat generell verboten und strafbar sein. Die Angemessenheit solcher Eingriffe läßt sich daher verfassungsrechtlich schlechterdings nicht rechtfertigen und ist unverhältnismäßig.
cc) Zwischenergebnis
Soweit § 1906 Abs. 3 BGB in seiner aktuellen Fassung derartige Eingriffe zuläßt und sich aufgrund seines insofern klaren Wortlauts auch nicht teleologisch reduzieren läßt, ist er daher auch aus diesem Grund verfassungswidrig und ggf. sogar nichtig. Von hier aus wird somit jede medizinische und jede psychiatrische Zwangsbehandlung als verfassungs- und menschenrechtlich nicht rechtfertigbar angesehen.
IV. Hilfsweise: Verfassungswidrigkeit von § 1906 Abs. 3 BGB n.F. mangels Beachtung der engen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung aus verfassungsrechtlicher, und menschenrechtlicher Sicht
1. Rechtliche Ausgestaltung der Zwangsbehandlung unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, namentlich des hiesigen Gerichts
a) Materielle Voraussetzung: Risiko irreversibler Gesundheitsschäden
Das hiesige Gericht hat im besprochenen Beschluß allerdings für eine Zwangsbehandlung folgende materielle Verhältnismäßigkeitsanforderungen formuliert:
– Ultima ratio der Zwangsbehandlung – getting to yes des Patienten,16
– Konkretisierung der Behandlung, ihrer Art, Dauer und Dosierung,17
– Geeignetheit und Erforderlichkeit.18
Verboten ist eine Zwangsbehandlung demnach, wenn diese „mehr als mit einem vernachlässigbarem Restrisiko irreversibler Gesundheitsschäden verbunden ist“.19 Zwar regelt der neue § 1906 BGB das Ultima ratio – Prinzip explizit und enthält auch die Pflicht zur Überzeugungsarbeit beim Betroffenen.
Wie oben beschrieben stellt eine physische und sexuelle Verstümmelung stets einen erheblichen Gesundheitsschaden dar. Damit ist die Zwangsoperation, die den Tatbestand einer schweren Körperverletzung erfüllt, namentlich verstümmelt oder entstellt aus Verhältnismäßigkeitsgründen auch nach den Vorgaben des hiesigen Gerichts generell verfassungswidrig. Als Parallelwertung sei hier § 228 StGB betrachtet, der sogar freiver-antwortliche Einwilligungen in manche Fälle besonders intensiver Körperverletzungen ausschließt. Erst recht müssen daher Körperverletzungen, die diesen Intensitätsgrad erreichen und gegen den Willen des Betroffenen erfolgen, verboten sein. Hier müssen bereits weniger intensive Eingriffe als in § 228 StGB genannt, verboten sein.
b) Formelle Voraussetzungen
Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat das hiesige Gericht für die psychiatrische Zwangsbehandlung eine Reihe formeller Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung abgeleitet. Diese dürften für eine sonstige medizinische Zwangsbehandlung ebenso gelten, sofern diese einer psychiatrischen, namentlich neuroleptischen, Zwangsbehandlung an Intensität vergleichbar ist:
- Rechtzeitige Ankündigung zur Ermöglichung effektiven Rechtsschutzes,20
- Konkretisierung der geplanten Dauer der Maßnahme,21
- Anordnung und Überwachung durch einen Arzt,22
- Dokumentationspflicht hinsichtlich Zwangscharakter der Maßnahme, Durchsetzungsweise, maßgeblicher Gründe der Maßnahme und Wirkungsüberwachung,23
- Unabhängige Vorabprüfung außerhalb der Einrichtung,24
- Bestimmtheitsgrundsatz.25
Nach der Rechtsprechung des hiesigen Gerichts müssen diese Verhältnismäßigkeitsanforderungen als wesentliche Tatbestandsvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung auch in der den Eingriff ausnahmsweise erlaubenden Rechtsgrundlage geregelt sein.
aa) Ankündigung – effektiver Rechtsschutz
§ 1906 BGB trifft keine Bestimmung darüber, daß eine medizinische Zwangsbehandlung zuvor angekündigt werden muß. Allerdings finden sich im Familienverfahrensgesetz (FamFG), in dessen §§ 312 ff., einige Verfahrensgarantien für die Unterbringung, und in entsprechender Anwendung auch für die medizinische (und psychiatrische) Zwangsbehandlung (§ 312 S. 2 FamFG).
Auch in §§ 312 ff. FamFG sucht man zwar eine explizite Regelung des Ankündigungserfordernisses vergeblich. Allerdings enthält § 319 FamFG ein Anhörungserfordernis des Betroffenen vor einer avisierten Zwangsbehandlung, inklusive einer Informationspflicht (§ 319 Abs. 2 FamFG). Die Anhörung wird sich kaum ohne die Information des Betroffenen über die avisierte Zwangsmaßnahme durchführen lassen. Allerdings begegnet Bedenken, daß gemäß § 319 Abs. 3 FamFG die Anhörung, und damit auch Information des Betroffenen, auch unterbleiben kann, wenn durch sie erhebliche Gesundheitsnachteile für den Betroffenen zu erwarten sind. Dem Unterzeichner ist in seiner nun mehrjährigen Praxis in diesem Bereich noch kein einziger Fall untergekommen, in dem die sachgerechte Information des Rechtssuchenden für dessen „Gesundheit“ gefährlich gewesen wäre. Zwar sind hier schon vereinzelt Fälle aufgetreten, in denen die Gerichte § 319 Abs. 3 FamFG angewendet haben. Letztlich haben sie es dann aber dem Unterzeichner überlassen, seine Mandanten gleichwohl zu informieren, was dieser natürlich schon aus Standesgründen stets getan hat. Keiner seiner Mandanten ist durch diese Information gesundheitlich geschädigt worden, alle waren vielmehr froh, nicht im Unklaren gelassen worden zu sein.
Eine explizite Regelung wäre zwar schöner gewesen, letztlich dürfte jedoch § 1906 Abs. 3 BGB iVm. § 319 FamFG dem verfassungsrechtlichen Ankündigungserfordernis jedenfalls dann genügen, wenn § 319 Abs. 3 FamFG nicht zur Anwendung gelangt. § 319 Abs. 3 FamFG wird daher hier für verfassungswidrig gehalten.
bb) Weitere Kriterien
- Art, Maß und Dauer des Einsatzes konkretisiert:
Auch das Erfordernis, die avisierte Maßnahme nach Art, Maß und Dauer des Einsatzes oder Eingriffes zu konkretisieren findet sich nirgends in § 1906 BGB – wenngleich in einigen ländergesetzlichen Regelungen, die zur Verfassungsmäßigkeit der bundesgesetzlichen Vorschrift in § 1906 Abs. 3 BGB aber nichts beizutragen vermögen. Das FamFG führt in seinem § 329 Abs. 1 Satz 2 lediglich aus:
„Die Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme oder deren Anordnung darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten, wenn sie nicht vorher verlängert wird.“
Weder wird also bestimmt, daß der Eingriff nach Art und Maß konkretisiert wird, noch daß er bereits im Vorfeld der Maßnahme konkretisiert wird, so daß sich der / die Betroffene darauf einstellen kann und Gerichte eine angemessene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen können. Lediglich eine Regelung hinsichtlich der Dauer der Maßnahme ist im Gesetz festgelegt, diese ist allerdings verfassungsrechtlich völlig unzureichend: zum einen handelt es sich um eine starre Regelung, die grundsätzlich eine sechswöchige Zwangsbehandlung erlaubt. Eine solche starre Regelung hatte das Bundesverfassungsgericht nicht im Blick, als es das Erfordernis einer Konkretisierung der Maßnahme nach ihrer Dauer aufgestellt hat. Zudem führt die Verlängerbarkeit der Dauer dazu, daß diese letztlich doch wieder unbestimmt ist. Notwendig wäre eine Regelung gewesen, die das Behandlerpersonal von Anfang an verpflichtet, die avisierte Dauer der Maßnahme zu konkretisieren. Eine solche Regelung fehlt.
§ 1906 Abs. 3 BGB ist auch wegen fehlender Bestimmung, daß die Zwangsbehandlung im Vorfeld nach Art, Maß und Dauer konkretisiert werden muß unverhältnismäßig und verfassungswidrig bzw. nichtig.
- Die Anordnung und Überwachung durch einen Arzt:
Dem Erfordernis der Anordnung durch einen Arzt dürfte durch die Formulierungen in § 1906 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 BGB – „ärztlicher Eingriff“, „ärztliche Maßnahme“ und „ärztliche Zwangsmaßnahme“ – genügt sein. § 1906 BGB erlaubt offensichtlich nur ärztliche Zwangsmaßnahmen. Dem Erfordernis der ärztlichen Überwachung wäre nur dann genügt, wenn unter „ärztliche Maßnahme“ die eigenhändige Vornahme durch einen Arzt gemeint ist. Dürfte auch nichtärztliches Personal „ärztliche Maßnahmen“ durchführen, so fehlte es an der Regelung des ärztlichen Überwachungserfordernisses.
- Die Dokumentationspflicht:
Eine Regelung der Dokumentationspflicht fehlt in § 1906 BGB und den verfahrensrechtlichen Bestimmungen des FamFG ebenfalls. Auch deshalb ist § 1906 BGB aus hiesiger Sicht verfassungswidrig bzw. nichtig.
- Die externe Prüfung außerhalb der Einrichtung
Sie ist ein sehr wichtiges Kriterium um dem bösen Schein der Befangenheit und möglicherweise beeinflussenden Eigeninteressen der behandelnden Psychiater zu begegnen. Allerdings hat auch der Bundesgesetzgeber diese Vorgabe des hiesigen Gerichts nicht hinreichend umgesetzt und in § 321 Abs. 1 S. 5 FamFG lediglich eine Soll-Vorschrift geschaffen, die noch dazu nur vorsieht, daß der Gutachter nicht der behandelnde Arzt sein soll, insofern also durchaus aus der betroffenen Einrichtung kommen darf. Auch § 329 Abs. 3 FamFG enthält lediglich eine Soll-Regelung.
Eine solche Regelung entspricht nicht dem vom Gericht aufgestellten Kriterium einer externen Prüfung. § 1906 BGB selbst enthält überhaupt keine entsprechende Tatbestandvoraussetzung für eine Zwangsbehandlung. Will man aber auch hier eine Regelung der verfahrensrechtlichen Garantien im FamFG ausreichen lassen und eine Verfassungskonformität von § 1906 Abs. 3 BGB an die Verfahrensgarantien des Familienverfahrensgesetzes knüpfen, so sind auch diese unzureichend. Eine Verfassungskonformität von § 1906 Abs. 3 BGB läßt sich somit auch nicht in Verbindung mit § 329 Abs. 3 FamFG begründen. § 1906 Abs. 3 BGB ist vielmehr mangels Regelung einer externen gutachterlichen Prüfung vor einer avisierten Zwangsbehandlung verfassungswidrig.
c) Weitere Rechtfertigungen?
aa) Wiederherstellung der Einsichtsfähigkeit als Begründung für eine Zwangsbehandlung?
Das Gericht geht allerdings davon aus, daß das Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst ein rechtfertigender Grund für eine Zwangsbehandlung sein kann. „Zwangsbehandlungen Untergebrachter, auch solche, die auf deren Entlassungsfähigkeit gerichtet sind“ seien „nicht […] generell unzulässig“.26 Zwar betont das Gericht auch hier die grundrechtlich geschützte „Freiheit zur Krankheit“.27 Sei ein Untergebrachter jedoch krankheitsbedingt nicht krankheitseinsichtig, so hindere dies den Betroffenen „seine grundrechtlichen Belange insoweit wahrzunehmen“28 und sei der Staat „nicht verpflichtet, ihn dem Schicksal dauerhafter Freiheitsentziehung zu überlassen“.29 In diesen Fällen könne der Gesetzgeber daher auch „Behandlungsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen des Grundrechtsträgers“ zulassen.30 Dem stehe auch die VN-Behindertenrechtskonvention nicht entgegen.31 Für die krankheitsbedingte Krankheitsuneinsichtigkeit sei aber nicht ausreichend, daß die Haltung des Untergebrachten von durchschnittlichen oder als „vernünftig“ eingestuften Positionen abweicht.32
Auch wenn der Unterzeichner diese Position, wie oben gesehen, nicht für schlüssig hält, ist somit festzustellen, daß dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Regelung der Zwangsbehandlung nicht per se verweigert ist. Was hierzu durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden wird, bleibt abzuwarten. Bislang steht eine grundsätzliche Entscheidung des EGMR zur psychiatrischen Zwangsbehandlung aus, nachdem das Verfahren in der Rs. Zierd ./. Deutschland (75095/11) nach Geldzahlung eingestellt worden ist. Es sollte aber ein gewisses Risiko der Menschenrechtswidrigkeit psychiatrischer Zwangsbehandlungen bei deren aktueller Neuregelung im Hinterkopf behalten bleiben.
2. Zwischenergebnis
Nach alledem ist die Frage des Bundesgerichtshofs ob § 1906 Abs. 3 BGB mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, vor dem Hintergrund, daß er eine Unterbringung des Betroffenen voraussetzt, die nicht gegeben ist, wenn die Betroffene sich der avisierten Behandlung räumlich nicht entziehen kann oder will, dahingehend zu beantworten, daß § 1906 Abs. 3 BGB deswegen nicht verfassungswidrig ist, weil er schon aus den vorgenannten Gründen verfassungswidrig ist.
Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Gleichbehandlung Untergebrachter und nicht Untergebrachter Personen im Falle einer Zwangsbehandlung kann es schon deshalb nicht geben, weil sowohl eine Zwangsbehandlung (siehe oben) als auch eine Unterbringung (siehe unten unter IV.) psychisch Kranker Personen Unrecht darstellt. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet jedoch die Gleichheit im Unrecht.
IV. Zwangsbehandlung und Unterbringung – Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lautet:
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Das Verbot der Behindertendiskriminierung als besonderer Gleichheitssatz ist auch der Vollzug einer völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands. Deutschland ist insbesondere Mitglied in der VN-Behindertenrechtsrahmenkonvention (BRRK), die eine Diskriminierung Behinderter verbietet.
Die Unrechtmäßigkeit der Unterbringung psychisch Kranker, psychisch Gestörter oder auch nur psychiatrisierter Menschen, die ebf. unter den Schutz der BRRK fallen, ergibt sich ohne weiteres aus Art. 14 dieser Konvention, der lautet:
Freiheit und Sicherheit der Person
(1) Die Vertragsstaaten gewährleisten,
a) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen;
b) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird, dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt und dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.
(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen, denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen wird, gleichberechtigten Anspruch auf die in den internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien haben und im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen dieses Übereinkommens behandelt werden, einschließlich durch die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen.
Der Ausschuß der Konvention, der international Verstöße gegen die Konvention überwacht, hat auf seiner 14. Sitzung in diesem Monat (September 2015) entschieden, daß jede Art von Freiheitsentzug aufgrund einer Behinderung – und hierher gehören eben auch psychische Behinderungen – eine Diskriminierung gemäß Art. 14 der Konvention darstellt.33 Der Ausschuß hat namentlich die Auffassung vertreten:
„that article 14 does not permit any exceptions whereby persons may be de-tained on the grounds of their actual or perceived impairment.“34
Jede Einsperrung psychisch Kranker aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ist mithin illegal. Insofern ist die BRRK dem deutschen Recht vorrangig. § 1906 BGB erweist sich auch vor dem Hintergrund des jüngsten BRRK-Ausschußberichts einmal mehr als legislatives Unrecht.
Der Ausschuß der VN-BRRK hat hierzu festgestellt:
„However, legislation of several States parties, including mental health laws, still provide instances in which persons may be detained on the grounds of their actual or perceived impairment, provided there are other reasons for their detention, including that they are deemed dangerous to themselves or to others. This practice is incompatible with article 14 as interpreted by the jurisprudence of the CRPD committee. It is discriminatory in nature and amounts to arbitrary deprivation of liberty.“35
Dies gelte, so der Ausschuß weiter, namentlich dann, wenn Menschen mit (psychischen) Behinderungen allein deshalb als eigengefährdend eingestuft würden, weil diese eine medizinische Behandlung verweigerten. Staatliche Regelungen, die für diese Fälle Sondergesetze schüfen, seien nicht mit Art. 14 BRRK vereinbar.36
Auch deshalb scheitert bereits die Vergleichspaarbildung: es gibt de jure nämlich gar keine Zwangsbehandlung in Unterbringung (sprich: Einsperrung) und eine in Freiheit, da die Ein-sperrung aufgrund psychischer Krankheit rechtswidrig ist.
Es ist nach Völkerrecht vielmehr umgekehrt so, daß gerade die Unterbringung von Menschen aufgrund ihrer Behinderung gleichheitsverletzend wirkt. So hat der VN-BRRK-Ausschuß ausgeführt:
“The absolute ban of deprivation of liberty on the basis of impairment has strong links with article 12 of the Convention (equal recognition before the law).“37
Da die Diskriminierung Behinderter als besondere Gleichheitssatzverletzung durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auch im deutschen Verfassungsrecht geschützt ist, besteht im deutschen Recht bereits eine Umsetzung des Diskriminierungsverbots aus Artt. 12 und 14 und das Recht auf Integration aus Art. 19 BRRK.
§ 1906 Abs. 3 BGB ist daher als behindertendiskriminierendes Sondergesetz auch wegen eines Verstoßes gegen den besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfassungswidrig. Eine Vorschrift, die stationäre und ambulante Zwangsbehandlung oder die Zwangsbehandlung gleichsetzen oder auch die Zwangsbehandlung immobiler Personen unabhängig von einer Unterbringung erlauben würde, verstieße daher in noch intensiverem Ausmaß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als die bestehende Regelung.
V. Ergebnis
Abschließend ist die Vorlagefrage aus Sicht des Bundesverbands Psychiatrieerfahrener e.V. dahingehend zu beantworten, daß § 1906 Abs. 3 GG mit dem Grundgesetz unvereinbar und gegebenenfalls auch nichtig ist, weil er in verfassungsrechtlich und völkerrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise Zwangsbehandlungen erlaubt, die völkerrechtlich den Tatbestand der Folter, mindestens aber der inhumanen und degradierenden Behandlung erfüllen, erlaubt.
Er ist aber auch deshalb verfassungswidrig, weil er zum einen mobile Menschen, die zum Weglaufen vor einer Zwangsbehandlung in der Lage oder willig sind der Gefahr einer solchen Zwangsbehandlung aussetzt, während er immobile Betroffene hiervon verschont und zum anderen auch, weil er Behinderten ihr Recht zur Entscheidung für oder wider eine medizinische Behandlung verwehrt und sie so gegenüber Nichtbehinderten diskriminiert.
Dr. David Schneider-Addae-Mensah
Rechtsanwalt
für den
Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE)
2 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712086.pdf
3 dort Seite 7
4 ebd. Seite 9
5 http://mdac.info/sites/mdac.info/files/march_4_torture.pdf
6 BVerfG, aaO., Rz. 55; BVerfG, Beschluß vom 14.07.2015 zu Az. 2 BvR 1549/14 und 2 BvR 1550/14, Rz. 30
7 BVerfG, aaO., Rz. 55
8 http://mdac.info/sites/mdac.info/files/march_4_torture.pdf, Rz. 11 ff.
9 vgl. BVerfGE 128, 282 (300), 2 BvR 882/09 (Zwangsbehandlung), Rz. 39;
10 Auch wenn das hiesige Gericht ausweislich der zitierten Meinungen in seinem unter Fn. 5 zitierten Beschluß in diese Richtung tendieren dürfte (dort Rz. 55)
11 vgl. Murswiek, GG, 7. Auflage, 2014, Art. 2, Rz. 211; Lindner, Verfassungswidrigkeit des – kategorischen – Verbots ärztlicher Suizidassistenz, in: NJW 2013, 136, m.w.N.; Schneider-Addae-Mensah, PflegeR 12/1014;
12 vgl. EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 29.04.2002, 2346/02, Rz. 61-67, veröffentlicht in NJW 2002, 2851; EGMR, Haas ./. Schweiz, Urteil vom 20.01.2011, 31322/07, Rz. 51 ff., 62, 67, veröff. in NJW 2011, 3773;
13 BVerfG, aaO., Rz. 44
14 Ebd.
15 Ebd.
16 BVerfG, aaO.,
17 Ebd., Rz. 60
18 Ebd. Rz. 61
19 Ebd.
20 Ebd., Rz. 63 f.
21 BVerfG, aaO.,
22 Ebd., Rz. 66
23 Ebd., Rz. 67
24 Ebd., Rz. 69 ff.
25 Ebd., Rz. 73
26 BVerfG, aaO., Rz. 50
27 Ebd., Rz. 48
28 BVerfG, aaO., Rz. 51
29 Ebd.
30 BVerfG, aaO., Rz. 49
31 Ebd., Rz. 52 f.
32 Ebd., Rz. 55
33 Bericht des Ausschusses unter der VN-BRRK vom September 2015, Rz. 6 ff., http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/14thsession/GuidelinesOnArticle14.doc
34 Ebd., Rz. 6
35 Ebd.
36 Ebd., Rz. 14
37 Ebd., Rz. 8