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Schirmherr: Gert Postel

Geschäftsstelle:
Haus der Demokratie und
Menschenrechte
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin

Dissidentenfunk
Bereich nur für
Mitglieder
————————–
Impressum.-

Wolf-Dieter
Narr, Alexander
Paetow
, Thomas
Saschenbrecker
und Dr.
Eckart Wähner

Psychiatrie,
Zwang, Selbstbestimmung und Wohl behinderter Menschen

Ein
sozialwissenschaftlich-juristisches Memorandum zur
Geltung der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland

Berlin
im Juni 2010

Einleitung

Zur merkwürdigen Zwangsverstocktheit der Psychiatrie

Seit langem
wogen die Streitwellen hin und her, vor und zurück. Was
bedeuten zentrale Grund- und Menschenrechte, Selbstbestimmung
jeder Person und ihre körperliche, seelische und geistige
Integrität, wenn‘s praktisch konkret darauf ankommt?
Grundgesetzgemäß sollen sie unmittelbar gelten. Insbesondere
dann und dort wird die Frage strittig, wo angenommen wird, unterschiedliche
menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen legitimierten
Zugriffe und Eingriffe mit Hilfe von Zwangsinstrumenten. Dementsprechend
werden staatliche und/oder privat lizensierte Organisationen
und ihre Personen instand gesetzt, die Selbstbestimmung von
Menschen zu begrenzen, gar aufzuheben und/oder die Unversehrtheit
der Person zu versehren.

Den riesigen
Problembereich können und wollen wir nicht ausmessen und
ausloten. Er kreist seit dem Beginn der Moderne um das staatliche
Gewaltmonopol, sein Recht und seine, rechtsstaatliche, sprich
primär am staatlich statuierten Recht orientierte, Legitimation.
In seinem Kontext spielen zwei große, sich randständig
überschneidende Bereiche eine eigenartige Rolle. Der eine
umfasst Überwachen und Strafen, also Abweichungen vom gesellschaftlich
„normalen“ Verhalten. Der andere Krankheiten aller
Arten, eine andere Abweichung von „Normal“. In diesem
Rahmen genießen insbesondere psychisch-habituelle Abweichungen
eine besondere Aufmerksamkeit. Wann ist es, in welchem Maße
und mit welchen Mitteln einer Gesellschaft und ihren Institutionen
erlaubt, in die physische, mehr noch in die psychisch-kognitive
Integrität von einzelnen ihrer Mitglieder oder ganzen Gruppen
einzugreifen, um möglichst eine restitutio in integrum
vorausgesetzte Normalität herzustellen? Wann müsste
eine Gesellschaft

dies tun, vor allem, wenn es sich um eine demokratisch organisierte,
grund- und menschenrechtlich konstituierte handelt?

Das Ob,
die Eingriffstiefe und die Voraussetzungen eines Eingriffs sind
in der allgemeinen Medizin mit ihrem kaum noch ermesslichen
Spektrum an Behandlungsarten neuerdings zu einer drängenden
Frage geworden. Ihre beschränkten kurativen Möglichkeiten
entgrenzen sich rekonstruktiv und konstruktiv als Leben verbessernde
und präventive Medizin. Und entgrenzen sich weiter. Der
allemal in Zweifel zu ziehende „Maßstab“ gegebener
„Normalität“ wird in seinen markierten Grenzen
dauernd verwischt. Diese Verwischungen werden im Umkreis eines
neuen Claire-Obscure von tödlicher Krankheit und Tod besonders
akut. Darf die medizinische Profession, oder dürfen Ärzte
als Teil ihres Berufs, Zeitpunkt und Eigenart des Todes einer
Person dort bestimmen, wo er nicht konventionell (!) natürlich
eintritt? Welches alles andere als absolute Wissen, welche Kompetenzen
hätten sie dafür, sozusagen den ärztlichen Kunst-Todmeister
zu spielen? Die Entgrenzungen der Medizin fächern weit
über die unbestimmte Grenze des Todes hinaus breiter und
sublimer. Darum kann bei rechtlichen und praktischen Vorkehrungen
angesichts der neuen Offenheiten nicht bei der ungenau gewordenen
Endphase des Lebens stehen geblieben werden. Alles medizinische
Tun und Lassen verlangt neue Anstrengungen, sich letztlich politisch
darüber klar zu werden, wer, wann, an Hand welcher Kriterien
entscheidet, wie mit gesunden und kranken Menschen verfahren
werden soll. Nie wurde die Fähigkeit, urteilen zu können,
mehr verlangt. Kann
das
anders als durch die gesunden und kranken Menschen im fließenden
Übergang
selbst geschehen?

Darum hat
sich der bundesdeutsche Gesetzgeber, selbst betroffen, mit dem
Ohr an den sorgenden Mündern vieler Bürgerinnen und
Bürger, nach längerem Vorlauf dazu entschieden, ein
größtmögliches Maß an vorauseilender Rechtssicherheit
zu gewährleisten. Er hat Bürgerin und Bürger
als ‚Menschenrechtsträger‘ instand gesetzt, gerade
dann über das Wie ihrer medizinischen Behandlung und schließlich
ihres Todes mit zu entscheiden, wenn die eigene Befindlichkeit
durch medizinischen Aufwand verbessert oder im Krankheitsverlauf
gebremst, das unbestimmte Ende eine Weile verhindert, in seinem
Verlauf verändert werden könnte. So erklärt sich
der unvermeidlich prekäre Beschluss, eine Patientenverfügung
als bürgerliche Chance einzurichten. Die Umstände
der eigenen Krankheit und des eigenen Todes und den professionellen
Umgang damit sollen Bürgerin und

Bürger mit- und letztlich selbst bestimmen. Diese Selbstbestimmung
geschieht in der Regel zu einem Zeitpunkt, da der potenzielle
Patient noch
nicht
genau wissen kann, wie es um ihn qua Bewusstsein, eigenen Willen
und seine Befindlichkeit insgesamt bestellt sein wird.

Es bleiben
also unvermeidliche Schwierigkeiten. Das individuelle Entscheidungs-Ich
muss sich insoweit ‚sozialisieren‘ als der entscheidungsfähige
Patient für den Fall seines eingeschränkten Bewusstseins
– mitten im Leben – eine für ihn stellvertretend
entscheidende Person benennen sollte, die ihrerseits mit Angehörigen,
Ärzten und Pflegepersonen den gemeinten, wenn vorweg gewollt
schriftlich festgelegten Willen ausführt. Das ist, soweit
wir sehen, gemeinhin auch in der dadurch teilweise entlasteten
Ärzteschaft anerkannt.

Umstritten
ist hauptsächlich, ob die Konsequenz aus grundrechtlich
normierter Selbstbestimmung und gleichrangigem Integritätsschutz,
auch für die Ärzteschaft gelte, die als Psychiater
eine Sonderkompetenz für psychisch abweichende Menschen
zu haben behaupten. Die beanspruchte Sonderkompetenz langer
Tradition hat mehrere Gründe. Eine hauptsächliche
Ursache ist in einer Geschichte der Vorurteile gegen psychisch
abweichendes Verhalten zu suchen. An dieser Geschichte hat die
Profession der Psychiatrie kräftig mitgewirkt. Während
die Ärzteschaft allgemein auf ihre Primärentscheidung
eingriffstiefer Behandlungen verzichtet, sie jedenfalls hinnimmt,
reklamiert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde (DGPPN) Kompetenzen, die verschiedentlich
Zu- und Eingriffe mit Zwang bedürfen.

Daran setzen
wir an. Wir beginnen mit zwei unterschiedlichen Beispielen.
Einem Gutachten, das Zwang rechtlich zu legitimieren trachtet
und einem amtsgerichtlichen Beschluss dem ein psychiatrisches
Gutachten zugrunde liegt. Danach holen wir allgemeiner grund-
und menschenrechtlich in Sachen Integrität und Zwang am
Exempel der Psychiatrie aus. Zwei kurze Nachschriften erwägen
zum einen die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention, zum
anderen geben sie Hinweise, wie begründete Entscheidungen
in nie perfekt voraussehbaren Situationen, mit Hilfe nie perfekt
bestimmbarer Kriterien verantwortlich riskiert werden können.

Die
Patientenverfügung und der psychiatrische Zwangsvorbehalt

I. Patientenverfügung

Seit 1.9.2009 gilt der neu im BGB aufgenommene, zuvor vom Bundestag
ausführlich diskutierte und verabschiedete,
§ 1901a, die Patientenverfügung.

Er lautet:
§ 1901a, die Patientenverfügung

1 Hat
ein einwilligungsfähiger Volljähriger für
den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich
festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung
noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines
Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche
Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung),
prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle
Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der
Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck
und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung
kann jederzeit formlos widerrufen werden.
2 Liegt
keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen
einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens-
und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche
oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen
und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche
Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt.
Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte
zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere
frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen,
ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige
persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
3 Die
Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und
Stadium der Erkrankung eines Betreuten.
4 Niemand
kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet
werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung
darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht
werden.
5 Die
Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte
entsprechend.

§
1901 b – Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens

1 Der
behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme
im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten
indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme
unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage
für die nach § 1901 a zu treffende Entscheidung.
2 Bei
der Feststellung des Patientenwillens nach § 1901 1
Absatz 1 oder der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen
Willens nach § 1901 a Absatz 2 soll nahen Angehörigen
und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit
zur Äußerung gegeben werden, sofern diese ohne
erhebliche Verzögerung möglich ist.
3 Die
Absätze 1 und 2 gelten für Bevollmächtigte
entsprechend.

§
1901 c Schriftliche Betreuungswünsche, Vorsorgevollmacht

Wer ein Schriftstück besitzt, in dem jemand für den
Fall seiner Betreuung Vorschläge zur Auswahl des Betreuers
oder Wünsche zur Wahrnehmung der Betreuung geäußert
hat, hat es unverzüglich an das Vormundschaftsgericht abzuliefern,
nachdem er von der Einleitung eines Verfahrens über die
Bestellung eines Betreuers Kenntnis erlangt hat. Ebenso hat
der Besitzer das Vormundschaftsgericht über Schriftstücke,
in denen der Betroffene eine andere Person mit der Wahrnehmung
seiner Angelegenheiten bevollmächtigt hat, zu unterrichten.
Das Vormundschaftsgericht kann die Vorlage einer Abschrift verlangen.

Joachim
Stünker, MdB, hat in der grundlegenden Debatte des Deutschen
Bundestages am 29. März 2007 die Intentionen des Gesetzgebers
im §1901 a BGB und den folgenden Ziffern des § 1901
a zusammengefasst:
„Darum
die Frage: Bringt denn eine gesetzliche Neuregelung für
die Zukunft Rechtssicherheit? Ich sage: Ja, wenn es eine klar
definierte materiellrechtliche Regelung zum zulässigen,
verbindlichen Inhalt einer Patientenverfügung gibt. Nach
dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung
entfaltet
die Regelung im bürgerlichen Gesetzbuch Gültigkeit
in allen Lebensbereichen.“
„Wie
müsste eine mich überzeugende Neuregelung aussehen?“,
fragt der Abgeordnete wenig später. „Im Mittelpunkt
müsste das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht
des Patienten stehen. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 unseres Grundgesetzes
bestimmen: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.

Daraus
folgt: Jeder Patient hat das Recht, sich für oder gegen
eine medizinische Behandlung zu entscheiden und gegebenenfalls
deren Umfang zu bestimmten. Dieser Grundsatz gilt auch für
den antizipierten Willen. Daraus folgt, dass der sicher festgestellte
Wille des Patienten unabhängig von der Art oder dem Stadium
der Erkrankung zu beachten ist.“

Darum gilt,
wie Joachim Stünker hervorhebt: „Eine Patientenverfügung
mit einer Reichweitenbeschränkung ist nach
meiner Überzeugung mit unserer Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung
zu bringen. … Unsere Rechtsordnung beruht darauf, dass
der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung
angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht
gegen das Unrecht zu entscheiden und sein Verhalten an den Normen
des rechtlichen Sollens auszurichten. Daraus folgt zum Beispiel,
dass der Staat bei Überschreitung dieser Normen das Recht
zum Strafen hat. Das ist der tiefste Eingriff, den ich in die
Freiheitsrechte vornehmen kann. Der Umkehrschluss ist aber genau
so zwingend“, folgert J. Stünker
und
steckt den Geltungshof der Patientenverfügung verbindlich
ab: „Der
Staat
hat es zu achten und darf sich nicht einmischen, wenn sich das
Indi
viduum
in seinem Verhalten an diesen Normen des rechtlichen Sollens
aus
richtet.
Das Grundgesetz garantiert das Recht auf Leben, es begründet
aber
keine
Pflicht, zu leben. Ansonsten müsste der Suizid strafbewehrt
sein, was
wir
alle nicht wollen. Der Staat darf das Leben nie gegen den erklärten
Patientenwillen schützen, wenn er denn frei und von einer
geschäftsfähigen Person bestimmt worden ist. Die Patientenverfügung
findet nach dem Grundgesetz ihre Grenze allein in der Verletzung
der Rechte anderer Personen. …“

Die Bundesärztekammer
und ihre zentrale Ethikkommission haben zwischenzeitlich erklärt:1
„In der Praxis wird gefragt, ob der Arzt in den Fällen,
in denen der Patient weder einen Bevollmächtigten noch
einen Betreuer hat, selbst bei Vorliegen einer einschlägigen
Patientenverfügung stets die Bestellung eines Betreuers
durch die Betreuungskammer anregen muss … Die Bundesärztekammer
und die ZEKO sind – wie das Bundesministerium für
Justiz – der Auffassung, dass eine eindeutige Patientenverfügung
den Arzt direkt bindet.“

Diese nicht
in Frage gestellte ärztliche Bindung wird jedoch von der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde (DGPPN) im Widerspruch dazu infrage gestellt.2
Sie sucht die Patientenverfügung zu unterlaufen. Dazu werden
psychiatrisch bestimmte Anforderungen an die Kompetenz des Patienten
gestellt. Der „Stand der medizinischen Erkenntnis“
wird als unabhängige Größe eingeführt,
auf deren vermeintlich festen Boden, die Patientenverfügung
ausgehebelt werden müsste. Außerdem wird ein eigenartig
bestimmter Spielraum, die Patientenverfügung zu interpretieren,
angenommen, die es erforderlich machten, „gemeinsam mit
den
Entscheidern in der Politik … Standards zu definieren und
zu etablieren, d
ie
der neuen Rechtslage Genüge tun, aber den Menschen mit
psychischen Erkrankungen eine adäquate Versorgung ermöglichen“.

II. Das
von der DGPPN bestellte Gutachten: „Die Auswirkungen
des Betreuungsrechtsänderungsgesetzes
(Patientenverfügungsgesetz) auf die medizinische Versorgung
psychisch Kranker”3

Das
Gutachten, das allem Anschein nach die herrschende Meinung der
DGPPN vertritt, wird nur insoweit referiert, zitiert und kritisiert,
als es geeignet sein könnte, die Konsequenzen einer Patientenverfügung
(PatV) für den psy
chiatrisch bestimmten Umgang mit
psychisch Behinderten infrage zu stellen
und
zu erodieren – als handele es sich bei den Letztgenannten um
Menschen, die eine Sonderbehandlung verdienten. Das Gutachten
des Kollegen Olzen ist trotz großer Lücken insgesamt
zu betrachten. Allein dann können die impliziten Vorentscheidungen
einsichtig gemacht werden, die das Gutachten den Charakter einer
petitio principii annehmen lassen, sprich ein quer durch
die gutachterliche Argumentation angezieltes festes Ergebnis
erreichen wollen. Das geht dem Gutachten als Vorentscheidung
voraus.

1. Ansatz:
Seinen einleitenden Bemerkungen entsprechend ist das 58
Manuskriptseiten umfassende Gutachten so aufgebaut, dass
es auf den ersten 20 Seiten die „Rechtslage ohne
Berücksichtigung des PatVG“
berücksichtigt.
Das dient dazu, die Bestimmungen des BGB vor und unabhängig
vom § 1901 a BGB Revue passieren zu lassen. Es handelt
sich um Variationen des Zwangs im Umgang mit Menschen,
denen man „psychische Störungen“ bescheinigte,
psychiatrisch intoniert und/oder legitimiert. Daran schließt
ein Abschnitt zu homologen Bestimmungen FamFG an (Gesetz
über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit). Ihm folgen einschlägige
Regelungen des PsychKGs aus Nordrhein-Westfalen. Durch
diese Folge der Darstellung gewährleistet das Gutachten
eine Rangfolge. Die Zähne der Selbstbestimmung gemäß
§ 1901 a BGB beissen sich an den vorausgesetzten
Zwangsspangen aus. Nicht umgekehrt. Dass aller Zwang sich
vor dem Monument des prinzipiell geltenden Selbstbestimmungsrechts
rechtfertigen muss. Dann müsste en detail und en
gros belegt werden, warum ein zentrales Grundrecht just
bei psychisch besonders empfindlichen Menschen außer
Kraft gesetzt werden soll.

2.

2a)

Löcher im Selbstbestimmungsrecht

BGB-Normen. „Eingriff[e] in das Selbstbestimmungsrecht“
seien aufgrund des „gesamte[n] Betreuungsrechts“
(§§ 1896 BGB) „orientiert“ „am
Wohl des Betreuten“ (Gutachten S.2 – hinfort
unter dem Nachnamen des Hauptgutachters zitiert). „Zum
Wohl des Betroffenen“ aber erlaube „das Gesetz,
seinen Willen notfalls durch Zwang
zu überwinden. Das „Verhältnis
von Wohl und Wille sowie von
Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge
stellten „die zentralen Fragestellungen des Betreuungsrechtes“
dar. Das Gutachten erörtert die von ihm als zentral
qualifizierten „Fragestellungen“ nicht. Es setzt
Wille und Wohl, Selbstbestimmungsrecht und Fürsorge,
ohne ihre Wechselwirkung zu erkennen und zu erörtern,
wie zwei Einheiten neben- und nacheinander. Ihrer
seits
wird die Annahme nicht diskutiert, dass jeweils Wohl und
Fürsorge, Stellvertretervernunft und Stellvertreterhandlung
selbst bestimmtes eigenes Handeln ersetzen. Dem entspricht
auch das einseitig akzentuierte Verhältnis der nächsten
Duade: „Selbstbestimmung und Integritätsschutz“.

Während
die „Betreuungsbedürftigkeit“ nach §
1896 BGB anzuordnen sei, könne ein Betreuer nicht
„gegen den freien Willen“ des Betreuungsbedürftigen
bestellt werden. „Die Betreuungsbedürftigkeit“
nämlich ergäbe sich „in der Praxis meist
aus organischen Störungen, Schizophrenien oder schweren
und schwersten Intelligenzminderungen“ (Olzen S.3).
Das klingt nach „objektiver“ Feststellung. –
More geometrico. Psychiatrisch ambivalenz- und irrtumsfrei.
Diese Interpretation bestätigt der zweite Nachsatz.
Er belegt, wie sehr in die naturwissenschaftlich behauptete
Sicherheit subjektiv moralische Urteilsfermente eingehen:
„Im Mittelpunkt der Betrachtung steht hier das Unvermögen,
die eigenen gesundheitlichen Angelegenheiten zu
besorgen
. Es ist gegeben, wenn der Betroffene
einwilligungsunfähig ist, ihm also
die verstandesmäßige, geistige und sittliche
Reife fehlt, um die Notwendigkeit, Bedeutung und Tragweite
eines Heileingriffs zu erkennen.“ Zu dieser Erkenntnis
scheint, wie anders, nur der psychiatrisch erfahrene Gutachter
in der Lage. Er gutachtet § 280 Abs. 1 S.1 Alt. 1
FamFG zufolge uninteressiert. Er legt ein „ärztliches
Zeugnis
“ ab.

Wie
könnte eine so bedeutsame Entscheidung aus dem „freien
Willen“ des Betroffenen folgen, der sich allenfalls
selber kennt, aber gutachterlicher Kompetenz entbehrt.
„§ 1896 Abs. 1 a BGB ordnet an, dass ein Betreuer
nicht ‚gegen den freien Willen‘ des Volljährigen
bestellt werden darf (sog. Verbot der Zwangsbetreuung).
„Der freie Wille“ – so weiß Gutachter
Olzen –, „setzt auch an dieser Stelle Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit voraus. Einsichtsfähigkeit
erfordert vom Betroffenen, die Bedeutung einer Betreuung
intellektuell erfassen und die Gesichtspunkte, welche
für und wider eine Betreuerbestellung sprechen, erkennen
und gegeneinander abwägen zu können. Steuerungsfähigkeit
ist gegeben, wenn nach dieser Einsicht gehandelt werden
kann. Fehlt es an einem dieser Elemente, ist der Wille
nicht frei, sodass die Anordnung der Betreuung gegen
den Willen
des Betreuungsbedürftigen erfolgen
kann“ (Olzen S.4 f.). Erstaunlich, was der Obergutachter
Olzen gewiss weiß. „Einsichtig“ ist, wer
sich dem psychiatrischen Traktat und seinen Institutionen
unterwirft. „Steuerungsfähig“, wer das
vermag, was Gutachter Olzen entgeht. Als Vorbedingung
aller Urteilskraft, Kant zufolge, fähig zu sein,
sich andere und andersartige Verhältnisse vorzustellen.
Im ge
gebenen
Fall verlangte dies, in der Lage zu sein, sich die Bedürfnisse
und Interessen eines Mannes oder einer Frau vorzustellen,
die/der in das Mühlengetriebe der Psychiatrie geraten
ist. Dass kurz danach der Rich
ter,
der über den „Einwilligungs-vorbehalt“
zu befinden hat, seinerseits
unter
dem Vorbehalt eines „psychiatrischen Sachverständigengutachtens
zu stehen verpflichtet ist, ergibt sich aus der psychiatrisch
allge
meinen
Unterwerfungslogik.

„Die
Unterbringung gem. § 1906 BGB“ behandelt Olzen
auf den Seiten 6 und folgende. Das angeblich zu schützende
„Wohl“ des Betreuten verlangt Zwang. Es wird
zum Zwangswohl. Das erlaubt zwischen zwangsweiser „Unterbringung“
und Zwangshandlungen zu unterscheiden. Als bedeute zwangsweise
Unterbringung nicht an sich selber schon eine raum- und
bewegungsfixierte, psychisch eindringlich
wirksame
Totalität. Als ließen sich vom scheinbar statischen
Zustand zwangsweiser Unterbringung die ‚dynamischen‘
Zwangshandlungen strikt unterscheiden. Welche Qualität
psychiatrischer Diagnose! „Die für die Unterbringung
nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB notwendige ‚Gefahr‘
bedeutet ein ernstliches und konkretes
Risiko
für Leben oder Gesundheit,
sie verlangt kein zielgerichtetes Tun des Betroffenen;
ihre Ursache muss in der Erkrankung des Betreuten liegen.
Die Unterbringungsgenehmigung des Gerichts nach §
1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB deckt die Unterbringung selbst und
keine Zwangsbehandlungen.“ Nach dem
alten deutschen Motto: In Fesseln frei!


„Für die Unterbringung nach § 1906 Abs.
1 Nr. 2 BGB sind die Intensität der
mit der Unterbringung verbundenen Freiheitsentziehung
und der drohende gesundheitliche Schaden
gegeneinander abzuwägen.“ Wieder wie zwei Entitäten,
die sich äußerlich zueinander verhalten! „Sie

die Freiheitsentziehung, d.Verf. – ist ebenfalls
nur dann zulässig, wenn und solange die Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit fehlen. Auch die
ser
Tatbestand – welche Täuschung im Begriff, d.Verf.–
ist wiederum
durch
psychiatrisches Gutachten festzustellen“ (Olzen S.7).


2b)

Verfahrensvorschriften, §§ 280 ff. FamFG. Hier
steht noch mehr als im Kontext des psychiatriehaltigen
BGB der Gutachter im Mittelpunkt. Wann immer Entscheidungen
anstehen, ist er der maitre de plaisir. Hierbei
reicht es, wenn seine psychiatrische Kompetenz in „Erfahrung
auf dem Gebiet der Psychiatrie“ besteht. Selbst diese
wird nur als Soll-Bestimmung verlangt. Ein verräterischer
Blick auf die fachfeste Kompetenz der Psychiatrie. Zwang
reicht von der „Unterbringung zur Begutachtung“
(Olzen S.12) nach § 284 FamFG bis zur Zwangsbehandlung
im
Rahmen „einer gerichtlich genehmigten stationären
Unterbringung“ nach § 1906 Abs.1 Nr.2 BGB. Dort
wird dem Gericht das Unzumutbare zugemutet: „Das
Gericht hat die vom Betroffenen zu duldende Behandlung“,
ganz und gar entmündigt wie er ist, „so präzise
wie möglich zu umschreiben und Angaben über
die Arzneimittel oder den Wirkstoff, dessen (Höchst-)Dosierung,
die Verabreichungshäufigkeit und alternative Medikationen
im Falle der Wirkungslosigkeit oder Unverträglichkeit
zu machen“ (Olzen). Als träte das Gericht als
psychiatrische Fakultät auf. Tatsächlich schlüpfen
die Psychiater in die zwangssanktionsgenagelten Schuhe
des Gerichts. Judikative und psychiatrische Praxis, wissenschaftlich
weißmäntelig geborgen, vermischen sich bis
zur Ununterscheidbarkeit.

2c)

Die Ermächtigungen der PsychKGe. Sie stehen „überwiegend
in der Tradition des Polizeirechts und stellen [„stellt“
im Original, d.Verf.] deshalb die Gefahrenabwehr in den
Vordergrund“ (Olzen S.15). Diese polizeiliche Tradition
gilt eher indirekt im Sinne polizeiförmig beeinflusster
Umgangsformen mit abweichendem Verhalten auch für
die gesetzlichen Normierungen des BGB vor dem Patientenverfügungsgesetz
(PatVG) und die eingeschlägigen Paragrafen des FamFG.
Dem „Fürsorgegedanken wird dadurch Rechnung
getragen, dass sich als selbstständiger Unterbringungstatbestand
die Selbstgefährdung findet.“ Diese muss „nicht
zwingend eine Außenwirkung zeigen“. Es reicht
also die psychiatrische oder psychiatrisch „erfahrene“
Diagnose.

Der
„Wille des Gesetzgebers“ ist dem „Willen
des Betroffenen“ systematisch überlegen. Laut
§ 2 PsychKG „ist auf den Willen und die Bedürfnisse
des Betroffenen besondere Rücksicht zu nehmen“.
Kriterien- und verfahrenslos unterstreicht die streng
formulierte Empfehlung – „ist … zu berücksichtigen“
– die pauschale Unverbindlichkeit. Die „Legaldefinition“
„psychische[r] Krankheit“, die Olzen im §
1 PsychKG gegeben sieht, lässt den sumpfigen kognitiven
Grund wahrnehmen, auf dem sich das psychiatrische Gebäude
mit seinen festen Mauern und teilweise geschlossenen Räumen
erhebt. Das Gutachen Olzen referiert § 1 PsychKG
mit eigenen Worten:
„§
1 PsychKG zählt Maßnahmen zum Schutz psychisch
Kranker auf und differenziert zwischen drei Arten
von Betroffenen
:
Personen, bei denen Anzeichen
einer psychischen Krankheit bestehen, die psychisch
erkrankt sind
oder bei denen die Folgen
einer psychischen Krankheit
fortbestehen
(…). Eine Legaldefinition für psychische
Krankheiten enthält § 1 Abs. 2 PsychKG. Dabei
handelt es sich um behandlungsbedürftige Psychosen
sowie andere behandlungsbedürftige psychische
Stö
rungen
und Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer
Schwere. Behandlungsbedürftigkeit besteht
im Falle einer erheblichen Verschlimmerung der Krankheit
ohne Behandlung und der damit verbundenen Zunahme oder
zumindest dem Fortbestand einer Gefährdung.“
(Olzen, S.16).

Aus
diesen vagen Bestimmungen, die, lose wie sie sind, nicht
einmal den spielraumweiten „unbestimmten Rechtsbegriffen“
zugeordnet werden können – um solche wissenschaftlicher
Validität handelt es sich nicht –, folgert das
PsychKG und das ihr ohne eigene Zutaten folgsame Gutachten
(dessen eigener Sinn darum dunkel bleibt, es sei denn
als reputierliche Verdoppelung, was ohnehin rechtsunsicher
rechtens zu sein scheint): „drei mögliche Maßnahmen
im Umgang mit Betroffenen“: „Hilfen“, „Schutzmaßnahmen“,
„Unterbringung“. Weder PsychKG noch Gutachter
nennen Kriterien und Prozeduren, mit deren Hilfe die „drei
Arten“ psychischer Befindlichkeiten genauer bestimmt
werden sollen. Sie erhalten dann auf der Skala des Zwangs
verschiedene Kerben. Die institutionell psychiatrisch
Zuständigen besitzen ein schier unbegrenztes Ermessen.


2d)

Wirkungen der PatV: Übergangslos additiv wird die
PatVG eingeführt (Olzen S. 20ff.). Indem der Aussage
und dem Anscheine des Gutachtens nach zunächst nur
der Inhalt des PatVG referiert wird, führt dasselbe
schon eine entscheidende und folgenreiche Interpretation
ein. Zutreffend berichtet es, Gegenstand einer PatV seien
nicht die Wünsche eines Patienten „über
die Person des behandelnden Arztes und den Behandlungsort.“
Mit einem dem Anscheine nach harmlosen „ebenso“
glättet Gutachter Olzen eine qualitative Differenz.
„Ebenso wenig“ gelte die PatV einer „isolierte[n]
Ablehnung von Maßnahmen im Vorfeld des Eingriffs,
wie etwa einer Unterbringung“ (Olzen S.21).

Der
Gutachter irrt interessiert. Ein dolus eventualis
lugt hervor. Bei besagter „Unterbringung“ geht
es nicht um ein X-beliebiges Zimmer in einem Krankenhaus
oder einem anderen Behandlungsort. Diese Art der „Unterbringung“
geschieht vielmehr zwangsweise in einen von Zwangsfäden
durchzogenen Raum. Schon die darauf gerichtete Diagnose
„im Vorfeld des Eingriffs“ teilt den Charakter
des Eingriffs. Sie widerspricht also dem PatVG. Sie widerspricht
dem „informationellen Selbstbestimmungsrecht des
Menschen“, das bundesverfassungsgerichtlich im „Volkszählungsurteil“
1983 aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet worden ist. Es bildet
zwischenzeitlich die Basisnorm allen Datenschutzes. Schon
die Erhebung von Informationen, geschweige denn ihre Weitergabe,
Speicherung und entscheidende Verwendung werden im „Informati
onszeitalter“,
auch soziologisch korrekt, als Handlungen gewertet. Sie
stellen
ohne Zustimmung der personalen ‚Datenquelle‘
Eingriffe in die Integrität des Menschen dar.

Im
Abschnitt zur „Rechtsstellung des Betreuers bzw.
Bevollmächti
gen“
(Olzen S. 21ff.) referiert Olzen signifikant lückenhaft.
Indem er
darauf
hinweist, dass bei einer PatV der „wirkliche Wille
des Erklärenden“ entscheidend sei, wenn sich
etwa nach dem Zeitpunkt der verfassten PatV im Laufe der
Zeit erhebliche Veränderungen der Situation ergeben
hätten, folgert er, ohne zu präzisieren, wie
der „wirkliche Wille“ von wem ermittelt werde,
contra PatV allgemein: „Hier kann das bereits von
der Rechtsprechung entwickelte Kriterium re
levant
werden – den entsprechenden Nachweis bleibt er schuldig,
d.Verf. –, dass die Patientenverfügung nicht
gilt, wenn sich die Sachlage aus der Sicht des Betroffenen
nachträglich grundlegend verändert
hat.“ Wer stellt dies fest, wenn der Patient sich
nicht artikulieren kann? Gerade diese Situation hat der
Gesetzgeber mit dem PatVG und dessen Bestimmungen verbindlich
antizipiert. Uneingeschränkt kommt letztlich nur
der vom Patient hierzu ermächtige Bevollmächtigte
infrage!

Gutachter
Olzen sucht auftragsgemäß, jede Ritze in den
neuen Bestimmungen des BGB zugunsten der psychiatrischen
Kompetenz und des entsprechenden Handlungsraums auszunützen.
So verfährt er auch in Sachen „Einschaltung
des Betreuungsgerichts (§ 1904 BGB)“. Eine solche
ist erforderlich, wenn Arzt und Betreuer uneins sind,
jedoch die „begründete Gefahr besteht, dass
der Betreute aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs
der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger
dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet“. Aus
dieser Regelung zu folgern, dass das Betreuungsgericht
umgehend zu entscheiden habe, ist angemessen. Nicht aber
angemessen ist es, weil es dem Telos: Selbstbestimmung
im Zusammenhang der PatV widerstreitet, im Indikativ zu
formulieren, dass bis zur Entscheidung des Betreuungsgerichts
„die zur Lebenserhaltung notwendigen Maßnahmen

zunächst fortzusetzen“ seien. In ähnlicher
Weise sucht Olzen, die PatV mit Hilfe „verfahrensrechtliche[r]
Neuerungen (§§ 287 Abs.3, 298 FamFG)“ partiell
auszuhebeln.


2e)

„Die Rechtslage unter Berücksichtigung des PatVG“
(Olzen S. 25 ff.). An diesem Überblick fällt
auf, dass er das Selbstbestimmungsrecht der BürgerPatienten
nicht grundrechts- und PatV-konform ins normative Zentrum
stellt. Darum werden andersartig gegebene oder anders
interpretierbare Bestimmungen nicht PatVG-gemäß
ausgelegt. Sie werden v
ielmehr
wie vorgegebene, wenigstens gleichrangig geltende Normen
ausgelegt, die die PatV einschränken.

Den
§§ 280 und 283 FamFG nach ist die Betreuungsbedüftigkeit
von Betroffenen durch ein Gutachten zu prüfen. „Der
Sachverständige soll Arzt für Psychiatrie oder
Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein“
(§280 Abs. 1 FamFG). Gemäß § 283
Abs. 1 und Abs. 2 FamFG kann der Betroffene zu einer Untersuchung
„vorgeführt“ und (Abs.2), gerichtlich angeordnet,
sogar dazu gezwungen werden. Professor Olzen folgert ‚befreit‘:
„Somit sind auch Untersuchungen gegen den Willen
des Betroffenen grundsätzlich möglich.“
(S.26). Er fügt hinzu, als habe er den „Geist“
des PatVG nicht verstanden: „Nach dem Wortlaut des
§ 1901 a BGB sind ärztliche Befragungen nicht
tauglicher Gegenstand einer Patientenverfügung“.
Die Differenz ums Ganze zwischen Befragung und Befragung,
solcher nämlich aufgrund von Zwang und Zwangsfolge,
wird biedermännisch unterschlagen. Selbstredend zu
Ungunsten des BürgerPatienten, stattdessen zu Gunsten
der psychiatrischen Panepisteme.

Im
Absatz darauf räumt er ein, ärztliche „Voruntersuchungen“
im Sinne psychiatrischer Untersuchungen könnten nicht
im Sinne des PatVG sein. Olzens anschließende eigene
Philologie des „Wortlauts von § 1901 a BGB“
endet immerhin mit dem Eingeständnis: „Damit
führt die Wortlautauslegung zu keinem eindeutigen
Ergebnis“ (S. 27). Sein systematisches Räsonnement
kommt allerdings zu einem anderen Schluss. Hierbei expliziert
er, wie naheliegt, den Logos seiner „Systematik“
(S. 27 f.) nicht. Er räumt ein, dass das PatVG den
„Patientenwillen stärken wollte“. Fraglich
scheint ihm jedoch, „inwieweit sich dieses Ziel in
die Gesamtsystematik des Betreuungsrechts“ einfüge.
Schon dieser Zweifel zeigt, dass nicht das Selbstbestimmungsrecht
des Menschen und daraus folgend die Patientenverfügung
das ‚System‘ und seine „Systematik“
leiten. Umgekehrt der Betreuungsgedanke, kurz Heteronomie
statt Autonomie bilden den Logos des Logos, sprich das,
was man im Englischen the value frame of reference
nennt, den wertorientierten Bezugsrahmen, auf den die
Interpretamente gerichtet sind.

Für
Olzen entsteht im Konflikt zwischen dem Willen eines Bürgerpatienten
und seinem „Wohl“, des letztgenannten rückhändiger
Vorrang. Mit Hilfe einer Kaskade von Hin- und Herwägungen
im mehrfachen Widereinanderspiel zwischen § 1901
a BGB, den §§ 283, 284 FamFG, zwischen §
1901 a BGB und § 1896 Abs.1 BGB mit vielerlei
erwägenden
„könnte es“, kommt das vergebens mühevolle
Gutachten zu eindeutigen Schlüssen. „Der Charakter
dieses Verfahrens ebenso wie der Umstand, dass die Regeln
zeitgleich mit §§ 1901 a ff. BGB geprüft
worden sind, sprechen also ebenfalls dafür, dass
die Feststellung der Betreuungsbedürftigkeit nicht
vom Willen des Betroffenen beeinflusst werden kann, der
sich nur im Hinblick auf ärztliche Behandlungsmaßnahmen
durchsetzt“ (Olzen 30 f.). So juristischer Rabulistik
kurzer Schluss: „Psychiatrische Befragungen
zum Zwecke der Feststellung der Betreuungsbedürftigkeit
können nicht durch eine Patientenverfügung
ausgeschlossen
werden, da sie weder Untersuchungen
des Gesundheitszustandes noch Heilbehandlungen oder ärztliche
Ein
griffe
darstellen.“

Das
nennt man die Lösung definitorischer Probleme
durch
Inklusion. Zwang verträgt sich mit der Selbstbestimmung
der BürgerInnen. Forced to be free, heißt
es an einer problematischen Stelle bei Rousseau. Darum:
Ebenso verhält es sich mit psychiatrischen
Untersuchungen. Sie werden zwar vom Wortlaut
des § 1901 a BGB erfasst, weisen aber eine andere
Zielrichtung auf. Sie dienen der Feststellung
der Einwilligungsunfähigkeit und damit der Geltung
einer Patientenverfügung.“ An der erzwungenen
Untersuchung, ob Selbstbestimmung gelte – der Geltungsprämisse
der Grund- und Menschenrechte schlechthin – „besteht“,
Olzen zufolge, „auch ein allgemeines Interesse, was
darin zum Ausdruck kommt, dass es sich – … –
um ein
amtswegiges
Verfahren handelt, für das der Gesetzgeber in jüngster
Zeit die Möglichkeit zur zwangsweisen Verwirklichung
neu geregelt hat“.

Die
Basisannahme, dass Heteronomie zuerst und primär
aller Autono
mie
vorausgesetzt sei, findet im psychiatrischen Gutachter
und Arzt
ihre
zentrale Gestalt. Ihre Physiognomie scheint als Gutachterwasserzeichen
auf jeder Seite durch.


2f)

Summe: Eine, wenngleich wichtige Lücke im Zwangszusammenhang.
Psychiatrische Befragung und Untersuchung sind, Olzen
gemäß, zulässig. Oder: sie können
nicht verhindert werden. Eine Lücke der Selbstbestimmung,
von der PatV mauergebrochen, kann aber nicht geschlossen
werden: Die der „Behandlung während der Unterbringung…
Diese Einschätzung liegt auf der Linie der Rechtsprechung
des BGH, der… ausdrücklich hervorgehoben hat, dass
jede ärztliche Behandlung gegen den Willen
des Patienten ein rechtswidriger Eingriff in
seine körperliche Integrität und damit selbst
dann unzulässig ist, wenn das Unterbleiben
der Maßnahme zum Tode des Betroffenen
führt“ (Olzen S. 49).

3.

Pointier unter grundrechtlicher Perspektive
I.
Das
Gutachten dient dem Interesse der Psychiatrie als Beruf,
die fachspezifischen Kompetenzen nicht einschränken
zu lassen. Zu diesen Kompetenzen zählt zum ersten,
fachexistenzbegründend, die Bestimmung der aus diversen
Gründen in den Berufskreis geratenen Personen als
psychisch abweichend, behindert, a-normal und krank. Zu
diesen Kompetenzen zählen, zum zweiten, die erkannten
Krankheiten „wissenschaftlich“ zu begreifen
und aufgrund ihres Begriffs Anamnese, Therapie und Prävention
zu betreiben. Zum dritten bestehen die Kompetenzen in
der Regel in Verbindung mit staatlichen Institutionen
darin, gutachterlich und im Behandlungsvollzug die Art
und die Ausmaße des Zwangs zu bestimmen. Sie markieren
die Krankenkarriere psychisch Behinderter von ihrer Krankheitsdiagnose,
der Bezeichnung ihrer Krankheit über den Grad an
Selbständigkeit im Rahmen ihrer Behandlung oder den
Zwang bis hin zu ihrer räumlichen und körperlichen
Fixierung.

II.

Das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger,
sich selbst zu bestimmen und ihre Integrität zu schützen,
kommt im Rahmen des Gutachtens nur negativ vor –
als Einschränkung der allwissenden und allbestimmenden
Kompetenzen der psychiatrischen Profession. In Sachen
der Grund- und Menschenrechte aller Bürgerinnen und
Bürger als potenziell oder aktuell psychisch Behinderten,
an erster Stelle ihre ineinander verschlungenen Menschenrechte
auf physisch, psychisch, kognitive Integrität und
in ihr und mit ihr erforderlicher Selbstbestimmung, erscheint
das Gutachten taub und blind. Sonst könnten, selbst
wenn man das professionell bornierte Interesse teilte,
die im Rahmen gesellschaftlicher Wirklichkeiten allemal
spannungsgeladenen Begriffe wie „Wille und Wohl“,
„Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Fremdbestimmung“,
„Unabhängigkeit“ und „Fürsorge“,
„Freiheit“ und „Sicherheit“ und dergleichen
Opposita mehr nicht wie konträre soziale Erscheinungen
oder exklusive Nullsummenspiele behandelt werden.

Sonst
wäre es vielmehr geboten, zuerst und durchgehend
mit dem Primat von Selbstbestimmung und Integrität
zu beginnen und zu enden. Entsprechend wären die
Probleme normativ klar und empirisch nüchtern zu
thematisieren, die sich ergeben, will man die Menschenrechte
nicht als abstrakte Normen verkümmern lassen. Dazu
gehörte in diesem Zusammenhang zuerst, Zwang als
Umgangsform mit psychischen Behinderungen in jeder Form
auszuschließen. Damit würden der allemal begrenzten
und riskanten Bestimmung psychischer Behinderungen und
dem Umgang mit
ihnen
erst die Chance einer wissenschaftlich begründeten
Profession und transparenten Praxis eröffnet.


III.

Der Menschen-und Grundrechteblindheit des Gutachtens infolge
seines einseitigen Interesses entspricht es, dass es sein
zentrales Objekt verfehlen musste: Die Grade und Grenzen
der 2009 neu aus Art.2 Abs.1 GG konstituierten Patientenverfügung
zu vermessen. Wie sollte dies auch möglich sein,
wenn die existenziell durchgehende Bedeutung der Patientenverfügung
verkannt wird. Sie erscheint nur als ärgerliche Gefährdung
und Einschränkung der psychiatrischen Kompetenz.
Sie droht krankheitsbegrifflich und im Sinne der von ihr
definierten Eingriffe qua gutachterlicher Tätigkeit
auch noch die Judikatur exzessiv zu bestimmen und zur
Verlängerung psychiatrischer Praxen umzufunktionieren.

IV.

Das Gutachten ist bedeutsam nur in dreierlei Hinsicht.
Zum einen, wovon weiter unten noch die Rede sein wird,
um die aktuelle, historisch verständliche Borniertheit
von Psychiatrie als Beruf zu ahnen. Zum zweiten, um verschiedene
fundamentale und laterale Erosionen zu identifizieren,
die einer Implementation der Patientenverfügung drohen.
Zum dritten, um den Gesetzgeber (und notfalls die Gerichte)
darauf aufmerksam zu machen, welcher zusätzlicher
Veränderungen und Harmonisierungen es noch bedarf,
damit die Patientenverfügung nicht wie ein schöner
Schmuckstein in einer anders normierten Landschaft verkümmere.
III.
Beschluss
des Amtsgerichts zu Witten – Ein Symptom, für
Schwierigkeiten, die PatV zu verwirklichen, sie also nicht
als quantité négliable zu missachten.

1.

Am 5. November 2009 beschließt das Amtsgericht Witten
für Herrn X den Berufsbetreuer Y einstweilen anzuordnen:
gesetzliche Grundlage: § 1896 BGB. „Eine abschließende
Beurteilung“ sei „jedoch erst nach weiteren
Ermittlungen möglich und zulässig.“

2.

Gleichzeitig fasst das Amtsgericht den Beschluss, eine
„geschlossene Unterbringung“ des zwangsbetreuten
Herrn X „längstens bis zum 17. Dezember 2009“
im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke.

3.

Exklusive Grundlage dieses Beschlusses bildet das „Gutachten
des Sachverständigen Herrn Dr. Boris Mönter“.
Dem Gutachten gemäß leidet Herr X „an
einer paranoiden Schizophrenie“. „Die notwendige
ärztliche Behandlung“ könne „wegen
fehlender Einsichtsfähigkeit des Betroffenen nur
in einer geschlossenen Einrichtung erfolgen. Von in seinem
Zustand enthaltenen Gefahren sei „nach dem ärztlichen
Zeug
nis
des Sachverständigen und dem Ergebnis der Anhörung
mit so großer Sicherheit auszugehen, dass die dringende
Unterbringung auch schon vor den noch erforderlichen weiteren
Ermittlungen“ zu genehmigen gewesen sei.

4.

Die vom Landgericht Bochum bestätigte Einzelrichterin,
Frau Muraski, – da „die Sache keine besonderen
Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art“
aufweise – fertigte am 01.12.2009 einen „Vermerk“
über einen von ihr am selben Tag in Herdecke wahrgenommenen
Anhörungstermin. An ihm waren neben Herrn X RA Gurtmann
und der Gutachter Dr. Mönter zugegen. Der Gutachter
führte erneut aus, der „Unterbringungsbeschluss“
sei notwendig gewesen, weil X „überhaupt nicht
einsichtsfähig“ sei. „Im Laufe der Behandlung“,
so Mönter vermerkentsprechend, „ist die Krankheitseinsicht
langsam gewachsen und man konnte mit ihm über die
krankheitsbedingten Anteile seines Denkens und Verhaltens
sprechen. Es wurde dann möglich, mit Herrn X psychoedukativ
zu arbeiten und ihm auch Ausgänge zu ermöglichen.
Seine Krankheitseinsicht ist jedoch noch nicht stabil
genug.“ Er erhalte das Medikament Zyprexa, das in
seiner – nicht präzisierten – Dosierung
so weiter genommen werden solle. Über das, was „Behandlung“
im einzelnen heißt, schweigt sich der Gutachter
ebenso aus wie darüber, wie „Psychoedukation“
erfolge und ihre Wirkung festgestellt werde.

Bei
der Aufnahme“ sei X „hoch angespannt“
gewesen und habe die Vorstellung gehabt, „dass hier
aus der Zimmerecke Gas ströme“. Das habe er
„dann später negiert“. Dr. Mönter
weiter: „In einem derartigen hochpsychotischen Anspannungszustand
sind adäquate Reaktionen nicht mehr möglich.
Die Akutsituation ist geprägt von Situationsverkennungen
und Fehleinschätzungen sowie dem Umstand, dass der
Betroffene von Ängsten gedrängt ist … Bleibt
eine Psychose unbehandelt, droht desweiteren die Gefahr
einer Chronifizierung eines solchen Zustands mit der späteren
Gefahr einer so genannten Negativsymptomatik, in der sich
der Antrieb sowie die Fähigkeit zum Umgang mit seiner
Umwelt reduziert. Es droht die Gefahr, dass ein Verlust
an kognitiven und sozialen Fähigkeiten eintritt,
dies insbesondere wegen der Inkohärenz der Gedankengänge
…“ Herr X habe „mehrfach zum Ausdruck gebracht,
dass er weder Unterbringung noch Behandlung“ wolle.
„Bei Abbruch der psychiatrischen Behandlung droht
zeitnah ein Rückfall in die akute Psychose … jedenfalls
für die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge,
Aufenthaltsbestimmung und Unterbringung“ sei „Betreuung“
erforderlich.

Im
Sinne der Sequenz psychiatrisches Gutachten primär,
dann richter
liche
Entscheidung gab die Einzelrichterin „bekannt, dass
dringende
Gründe
für die Annahme bestehen, dass die Patientenverfügung/Vor
sorgevollmacht
vom 15.7.2009 wegen partieller Geschäftsunfähigkeit
des
Betroffenen unwirksam ist und deshalb die Anweisung des
Vor
sorgebevollmächtigten,
die Unterbringung umgehend zu beenden, un
beachtlich“
sein dürfte.


5.

Am 19.1.2010 fasst das Bochumer Landgericht den erneuten
Beschluss am vorhergehenden Beschluss festzuhalten, ihn
jedoch in einer Hinsicht zu ändern: „Die Betreuung
für den Aufgabenkreis Wohnungsangelegenheiten wird
aufgehoben.“ Im Abschnitt „Gründe“
(S.2 ff.) werden bekannte Tatsachen und vor allem die
gutachterliche Einlassung von Dr. Mönter in Formulierungsvariationen
angeführt. Eingeräumt wird: „Zwar war in
der Anhörung – siehe oben am 1.12.2009, d. Verf.
– ein geordnetes Gespräch mit dem Betroffenen
durchaus möglich.“ ABER! „Der Psychiater
hat die zu Beginn des stationären Aufenthalts vorhandene
psychotische Symptomatik jedoch ausführlich geschildert.
Der Betroffene hat auch eingeräumt, an einer akuten
Psychose gelitten zu haben und auch die Situationen, die
zu den stationären Aufenthalten geführt haben,
als sehr belastend empfunden zu haben.

Im
Gegensatz zu seinen Angaben in der Anhörung am 01.12.2009
hat er die Medikation heimlich nicht genommen, wie eine
Blutuntersuchung zum Abschluss der stationären Behandlung
ergeben hatte. Die vom Betroffenen abgegebene Freiwilligkeitserklärung
hat sich im nachhinein als eindeutig nicht tragfähig
erwiesen … Selbst wenn sich der Betroffene in Berlin
in ärztliche Behandlung begeben haben sollte, kann
insoweit wegen der Ambivalenz des Betroffenen noch nicht
von einer ausreichenden nachhaltigen Stabilisierung seiner
Situation ausgegangen werden. Angesichts dessen ist absehbar,
dass wiederum Zwangsmaßnahmen erforderlich werden
können.“


6.

Was Wunder, dass das Landgericht angesichts der Fülle
nicht gestellter Fragen und nicht angestellter Erwägungen,
die sogleich unter 7. anzudeuten sind, zu drei zusätzlichen
Schlüssen im Zwangszusammenhang kommt. Sie belegen,
dass seine Behauptung vor dem Zwangsschluss am Ende (S.7
f.), milde formuliert, eine Selbsttäuschung darstellt.
Dass sein Beschluss nämlich nicht gegen die Behindertenrechtskonvention
verstosse und Herr X „zweifelsfrei als Rechtssubjekt
behandelt“ worden sei. Zum einen: Die PatV stehe
„der Einrichtung einer Betreuung nicht entgegen.“
Wie viele verbale Slalomkurven erträgt eine Gerade?
Zum zweiten: Dass das Tun und Lassen des von Herrn X gewählten
Bevollmächtigten, „die Belange des Betroffenen
… nicht wahrgenommen“ habe. Zum dritten, dass das
„objektive Wohl“ von Herrn X obsiege, weil er
nicht über „die Fähigkeit zur eigenständigen
Willensbildung“ verfüge. Diese umfasse „die
Fähigkeit, unbeeinflusst von einer psychischen Krankheit,
eine freie Entscheidung aufgrund der Abwägung des
Für und Wider nach sachlichen Gesichtspunkten zu
treffen.“

Irritierend,
dass dem Landgericht nicht in den Sinn kommt, der entsprechend
der PatV gewählte Vertreter habe gerade das letztlich
nur subjektiv bestimmbare Wohl
als seinen Auftrag ohne die Willkür eines aufgenötigten
Betreuers begriffen. Dazu war er von der Person des Herrn
X bevollmächtigt worden. Hätte er dem psychiatrischen
Gutachter und den vom Gericht verlängerten Zwangsmaßnahmen
folgen sollen? Dann hätte er, dem gemeinten Sinn
der PatV widersprochen. Wie und aufgrund welcher Fähigkeiten
psychiatrischer Gutachter und des Gerichts hätte
er dazu in der Lage sein sollen, das „objektive Wohl“
zu finden und ihm mit wohlgenauen Maßnahmen zu entsprechen,
bleibt ein Rätsel. Solche Mystik ist einem Gericht
in seinen auf Wahrheit bezogenen Schlussfolgerungen nicht
angemessen. Es sei denn, es behaupte die Kompetenz plato
nischer
Philosophen, dem VI. Buch der Politeia folgend (Dort se
hen
die Philosophen die Wahrheitssonne ohne Schatten. Schattenbil
der
zu sehen, eidola, ist das Los sonstiger gewöhnlicher
Sterblicher).


7.

Die gerade entdeckten Fragen häufen sich, die als
feste Aussagen des Gerichts schlummerten. Das geschieht
in einem Maße, dass die Zwangsmittel, die das Gericht
legitimiert, in keinem Verhältnis zu seiner Missachtung
zentraler Grundrechte stehen. Nur einige Fragen seien
herausgegriffen. Sie zermürben den empirischen und
normativen Urteilsboden, auf dem der Beschluss vom 19.
Januar 2010 und die vorausgehenden Beschlüsse erfolgten.

Zum
ersten: Gesetzt, dass Herr X auffiel und an Ränder
‚normalen‘ Verhaltens schrammte. Gesetzt zusätzlich,
dass sein Verhalten im sozialen Raum, Vorstellungen psychischer
Behinderung, konventionellem Sprachgebrauch folgend, Merkmale
psychischer Erkrankung zeigten und Angehörige, zum
Beispiel seine Eltern, nach Hilfe Ausschau halten mussten.
Was gab (und gibt) auch nur den geringsten Grund, sich
entmündigender Zwangsmittel zu bedienen? Gerade anläßlich
psychischer ,Störungen‘ läge ein äußerst
behutsames Verfahren nahe. Hilfen werden angeboten bar
aller Sanktionsdrohungen im Hintergrund. Angebote können
bekanntlich angenommen wer
den,
aber auch verneint werden. Das macht ihren Wortsinn aus.
Im
Kontext
von Herrn X ist nichts dergleichen berichtet worden. We
nigstens
von der Vergeblichkeit großzügiger Hilfsangebote,
die trotz
anscheinshafter
Hilfe von Herrn X ausgeschlagen worden sind, hätte
sich
im Sinne einer ersten Prämisse das Gericht oder zuerst
die Ein
zelrichterin
überzeugen müssen.

Zum
zweiten: Das Gericht irrte, wenn es sachlich und rechtlich
kei
ne
Komplikationen sah. Weswegen es eine Einzelrichterin als
ausrei
chend
erachtete. Wenn es mit Zwang in der PatV gebündelte
Grund-
und
Menschenrechte ausradiert, dann müsste für ein
zur Grundrechts
konformität
verpflichtetes Gericht eine erhebliche Komplikation be
tehen.
Mehr als bedenklich ist es, dass das Gericht im Zwang
und sei
nen
Folgen gar kein Problem gesehen hat.

Zum
dritten: Jenseits von Hilfeangeboten und Nachfragen danach,
kann niemand, auch keine Institution, außer ihren
Eignern, den Bürgerinnen und Bürgern, mit dem
Grund-und Menschenrechtetandem, Selbstbestimmung und
Integrität (wie vice versa), wie mit einem Fiaker
herumkutschieren. Oder genauer: Institutionen, auch solche
des Rechts oder professionalisierter psychischer Hilfsleistungen
im Falle von Herrn X, finden am Menschenrechtstandem und
seinem im sozialen Kontext souveränen Fahrer, hier
Herrn X, ihre Grenze. Wollen sie auf ihn und auf ein ihm
eingewachsenes Gefährt Einfluss nehmen, so gibt es
nur eine prima ratio: Alle Hilfe muss mit den Mitteln
der Überzeugung, deren Angebote ohne andere Sanktion
als ihrem Nichtgebrauch erfolgen. Warum haben die gerichtlich
mit Herrn X befassten Einrichtungen nicht den Ausgang
ihrer Erwägungen damit genommen, dass sie Mittel
und Wege gefunden oder findige Institutionen genannt hätten,
damit die Adäquanz zwischen dem Ziel besagten Tandems
und den Mitteln hätte erzielt werden können?
Wie können die gerichtlichen Instanzen die hanebüchene
Inadäquanz freiheitlich unversehrter Ziele und zwangsweise
eingreifender Mittel bis hin zur Blutabnahme und -untersuchung
billigen?

Die
Mittel erschlagen die Ziele! Und diese Blutabnahme, oben
im Zusammenhang zitiert, erfolge nur, um den weiteren
Zwang zu legitimieren. Frei nach Friedrich Schiller: Das
ist der Fluch zwanghafter Tat, dass sie fortwährend
neue Zwänge muss gebären. So kommt es nicht
von ungefähr, dass die zuständigen Richterinnen
die tandemfahrende PatV nur achten, indem sie dieselbe
missachten. Sie verzichten sogar auf jeden argumentativen
Aufwand. Recht, genauer Unrecht, ohne Wort. Zum vierten:
Selbst, wenn die Vertreterinnen des Rechts nicht in die
Schule psychiatriekritischer Erfahrung gegangen sein sollten,
angewiesen vielmehr allein auf das, was man sachverständige
Hilfe nennt, hätten sie sich keinem psychiatrischen
Sachverstand rechtsunterwerfen dürfen. Die Diagnose
Dr. Mönters, aus der die Missachtung der PatV und
alles Weitere geradezu (psychiatrie-)logisch folgte, haben
die gerichtlichen Instanzen hingenommen wie die „Wahrheit“
selber.

Und
diese Wahrheit machte nicht nur nicht frei, sondern legitimierte
Zwang. Hätten Einzelrichterin und Landgericht ernsthaft
nach größtmöglicher Annäherung an
Wahrheit in irdischen Angelegenheiten gestrebt, die unabdingbar
ist, wenn‘s gar um Freiheits- und Integritätsverletzungen
geht, wäre sokratisch bohrendes Nachfragen angezeigt
gewesen. Was ist das eine „Psychose“ nicht etikettallgemein,
sondern im besonderen Fall von Herrn X? Handelt es sich
um eindeutig lesbare Erscheinungsmerkmale („Symptome“)?
Treten diese bei den Personen, an denen sie wahrgenommen
werden, gleich auf? Wie lange tun sie das? Setzen sie
eine Person nur vorübergehend schachmatt, und wie
weit tun sie das, oder sind im vermuteten Zeitverlauf
gravierende Schwankungen anzunehmen? Gibt es diesseits
und jenseits allen Zwangs, der allemal nur die mangelnde
Hilfsbereitschaft und Phantasie, auch eigene psychische
Ängste von Personen und ihren Institutionen belegen
mag, selbst wenn sie die Maske des Rechts tragen, gibt
es also nicht der Selbstbestimmung und Integrität
entsprechende Mittel und Wege?

Was
heißt außerdem „Behandlung“? Von
einer solchen hat Dr. Mönter im Winde der Pauschalität
wehenden Mantel gesprochen. Welche Medikamente infolge
welcher Untersuchungsergebnisse spezieller Anamnese von
Herrn X sollen regelmäßig verabreicht werden?
Wie haben sie gewirkt? Welche Indizien stehen dafür?
Ist es nicht das gute Recht von Herrn X, Medikamente,
die auf ihn uneinsichtig einwirken, zu verweigern? Wenn
ein Gericht ihm, psychiatrisch begründet, sein Recht
nimmt, kann er es dann nicht bürgerrechtlich für
sich zurücknehmen? Alle gerichtliche Moralisiererei
ist unangebracht, Herr X habe die ihn offenkundig nicht
überzeugenden Medikamente nicht genommen.

IV.
Psychiatrie
als Profession, insoweit sie medizinisch wissenschatlich
Zwangsmaßnahmen wider Selbstbestimmung und Integrität
fundiert und legitimiert

1.

Psychiatrie ist nicht gleich Psychiatrie.
Zwischen
den langen historischen Vorläufen seit der Morgenröte
europäischer Moderne, cartesianischer Rationalität
und der Gegenwart klaffen qualitative Unterschiede –
von der jüngeren, insbesondere der deutschen und
sowjetischen Vergangenheit ihres vernichtenden Gebrauchs
nicht zu reden. Die qualitativen Differenzen einzuebnen,
hieße in der Kritik versagen. Kritik bedeutet an
erster Stelle dem lateinischen Motto zu folgen: differendum
est inter et inter
. Hinzukommen – speziell auf
die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vor und
nach 1990 bezogen – eine Reihe gravierender Veränderungen
und Reformen zwischen den 1940er, 50er, und 60er Jahren
einerseits und seit den 1970er Jahren andererseits, die
durch die international artikulierte Psychiatriekritik
und Anti-Psychiatrie angeregt worden sind, ohne einen
radikalen Bruch herbeizuführen. Der Begriff, genauer
die Begriffe „psychischer Krankheit“ haben sich
verändert. Zum Beispiel ist Homosexualität aus
dem Katalog der Geisteskrankheiten verabschiedet worden.

So
wenig also Formen und Funktionen des Wandels in Abrede
gestellt werden dürfen, so irrtümlich wäre
es jedoch, teils untergründige Kontinuitäten,
nicht zuletzt im Sinne nicht in Frage gestellter Prämissen,
teils gegenwärtig wirksame Traditionen zu verkennen.
Das, was oben am Beispiel des offiziösen Gutachtens
von Prof. Olzen im Auftrag der DGPPN referiert worden
ist, die Skizze der ‚Beschlüsse‘ des Amtsgerichts
Witten und des Landgerichts Bochum, beide im Kampf um,
genauer gegen die unverkürzte Geltung der PatV und
der Behindertenrechtskonvention, lässt aus der Vergangenheit
herüberreichende Schatten gegenwärtig dunkle
Flecken werfen. Gilt in Sachen ‚junger‘ PatV
und ihr drohender Einschränkungen das alte lateinische
Motto: wehret den Anfängen (principiis obsta), so
kann dies gleichzeitig nur getan werden, indem man die
Spuren nicht verkennt, die anhaltend schrecken (vestigia
terrent).


2.

Geschichtliche Merkmale der Psychiatrie.
Geschichtliche
Rückblicke, auch wenn sie nicht um ihrer selbst willen
historisch systematisch im Angesicht der jeweils gegebenen
Kontexte erfolgen, haben einen dop138 pelten Sinn. Sie
sollen wie zu Natur gewordene Konzepte, Institutionen,
Instrumente, Umgangsformen genetisch, ,verflüssigen‘.
Zu erkennen ist, wie und getrieben von welchen Interessen
die genannten Konzepte, Institutionen und Praktiken Wirklichkeit
geworden sind und Wirksamkeit erzielen. Außerdem
erlaubt die genetische Sicht, Funktionen und Probleme
wahrzunehmen, die in der Kurzdistanz der Gegenwart kein
Profil gewinnen.

Mit
Michel Foucaults Untersuchungen und anderer Hilfe ist
zu entdecken, wie sehr im langgestreckten Geburtsprozess
europäisch-angelsächsischer Moderne, eine neue
„Macht-Ordnung“ unter anderem mit Mitteln der
Disziplinierung, der Inklusion und Exklusion, der (politischen)
Kategorien Gesundheit und Krankheit und darin insbesondere
derjenigen von „normal“ und „anormal“
äußerlich und innerlich zu errichten versucht
wurde. Schritt für Schritt ist sie etabliert worden.
Als sei sie selbstverständlich. Im Zuge dieser Entwicklung
mit einer Fülle regionaler Variationen kam es um
die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zum einen zur „Geburt
der Klinik“, sprich zum Beginn sich rasch häutender
und professionell besondernder, naturwissenschaftlich
orientierter Medizin. Zum anderen übernahmen schon
bestehende protopsychiatrische Ansätze bald den professionell
naturwissenschaftlichen Anspruch der Medizin. Sie wurden
deren ‚normaler‘ Teil. „Die“ Psychiatrie
wurde die medizinische Variante, die für die ‚verrückt‘
Erklärten, die Abweichenden, die „Wahnsinnigen“
zuständig sein sollte, konstruktiv, auf Fürsorge
und Heilen zugleich angelegt. Daraus entstand früh
eine „Dyssymmetrie“ zwischen den professionell
Zuständigen und ihren Anstalten und denjenigen, die
deren Heilkünsten unterworfen worden sind. Psychiatrie
wurde nicht nur früh ein Machtspiel.

Die
Macht psychiatrischer Professioneller und ihrer festen,
ein- und ausgrenzenden Anstalten kam darin zum Ausdruck,
dass sie diejenigen, die sie außer der normalen
Menschenreihe behandelte, entmündigte, sprich sie
ihrer mehr als minimalen Mitbestimmung entkleidete. Das
Verhältnis Psychiatrie und ihre Vertreter hier und
„psychisch Kranke“ dort bestand in einem mehrdimendionalen
Un-Verhältnis: Gesunde hier, die als Professionsvertreter
„der Gesunden“ die Befindlichkeit der Kranken
definierten. Konsequent: Machtausübende hier, Machtunterworfene
dort. Im Zuge der Verwissenschaftlichung rundete sich
die existenzielle Ungleichheit zur „Wahrheit“
der einen und zur Unwahrheit der anderen. Letztere zehrten
von der Wahrheit der zuerst Genannten. Mit den „psychisch
Kranken“ wurden heilprofessionell und/oder verwahrprofessionell
behandelnde Umstände gemacht. Damit man sie ein Stück
weit zur Wahrheit etablierter Ordnung her’überziehe,
sie viel
leicht
sogar sich e-manzipieren lasse oder aber im Stande des
erwiesenen -Wahnsinns- eingekapselt, der Gesellschaft
aushäusig verwahre.

Das,
was Foucault die Facetten einer „Mikrophysik der
Macht“ genannt hat, war, wie sich aus dem gesellschaftlichen
Kontext ergibt, eng verbunden mit Gesetz und Polizei.
Es war also insgesamt verbunden mit der geltenden Makrophysik
der Macht. Betrachtet man die psychiatrische Wahrheitsherrschaft
und ihr Selbstverständnis, die die gesellschaftliche
Geltung und Selbstbestimmung der ihr Unterworfenen auszehrte,
dann begreift man, wie es zu den psychiatrischen Exzessen
der Vernichtungsmacht der Nationalsozialisten und der
Sowjetunion kommen konnte. Als „Extremismus der Mitte“,
der Normalität mit ihrem anormalen Schatten zuvor
– mit zunächst gleitenden Übergängen.


3.

Das von der DGPPN bestellte Gutachten von Prof. Olzen
und Mitarbeitenden weist in einem doppelten Sinne nicht
bedachte und veränderte Kontinuitäten gerade
dort aus, wo aus wissenschaftlichen und normativ praktischen
Gründen äußerste Vorsicht walten sollte.
Mangelhafte Reflexion und konzeptionelle Folgen sind im
Wissenschaftsverständnis der Psychiatrie auszumachen.
Von diesem fragwürdigen Verständnis lebt sie
ihre definitionsmächtige Stellvertreterfunktion nicht
zuletzt im Rahmen der Judikatur. Mit ihm ist der praktische
Anspruch eng gekoppelt, nicht folgsame Patienten, notfalls
auch ihre möglicherweise aufmüpfigen Bevollmächtigten,
zu ihrem Heil-Glück zu zwingen. „Die Tugend“,
diese Einsicht, resultiert aus dem Herrschaftsanspruch
abstrakter Vernunft, „muss – notfalls –
durch den Schrecken herrschen“. Über die „Tugend“,
sprich Normalität und Anormalität, verfügt
die Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis in einem.

3a)

Wissenschaft. Das von den Vorvätern Bacon, Descartes
u.a. ererbte Wissenschafts- und Wahrheitsstreben nach
objektiver, für alle Menschen zeit-und raumunabhängig
geltender Erkenntnis und die unmittelbare praktische Umsetzung
der Erkenntnisse gilt für die naturwissenschaftlich
dominierte moderne Medizin allgemein. Kant hat sie deshalb
den „oberen“, nämlich den praktischen „Fakultäten“
der Universität zugeordnet. Gerade auch im wissenschaftlichen
Erkenntnisverfahren pendeln wissenschaftliche Erkenntnis
und praktische Anwendungen und Experimente hin und her.
Das aber bedeutet, dass zum einen Krankheit oder abweichendes,
als krank qualifiziertes Verhalten objektiviert wird.
Der Pati140 ent als Person wird objektivierend zum sub-jectum,
zum Unterworfenen.

Ihm
geltten Anamnese und Therapie. Zum anderen wird das kranke.
Objekt über seine Individualität hinaus als
anatomisch organisches Kompositum je nach Stand der Erkenntnis
vom soziopolitischen Kontext abstrahiert. Ein Körperwesen,
dessen psychische Äußerungen körperlich
rückgebunden und primär körperlich, beispielsweise
pharmakologisch behandelt werden. Das Hin und Her von
Erkenntnis und Erfahrung zeitigt bei unterschiedlicher
Rangfolge, zum dritten, die Konsequenz, dass Krankheiten
und Behandlungsformen typologisch bestimmt und medizinisch
pharmakologischer Erfolg statistisch bestimmt werden.
Die daraus resultierende Unsicherheit und Fehlerquote
wird indes nur als innerwissenschaftliches Problem im
Rahmen professioneller Sicherungen gehalten. Mit dem Habitus
wissenschaftlicher Bestimmtheit treten die medizinischen
Repräsentanten den Patienten und den ihnen vor- und
nachgelagerten rechtlichen, Kranke verwahrend versorgenden
wie politischen Institutionen entgegen.


3b)

Wissenschaftlich-technologische Entgrenzungen. Schon im
19. und 20. Jahrhundert ist innerhalb der medizinischen
Wissenschaften ein eigener Turm babylonischer Fachsprachenverwirrung
entstanden. Dennoch galt prinzipiell die diagnostisch
therapeutische Schranke: Dass die möglichst weitgehende
Wiederherstellung der verletzten Integrität des Patienten
das hauptsächliche Ziel darstelle. Restitutio in
integrum. Die Integrität des Patienten schien eindeutig
gegeben. Infolge der methodologischen und technologischen
Veränderungen im Verlauf der letzten 50 Jahre verschwammen
die bis dahin dem Anscheine nach eindeutigen Konturen
von Leben und Tod. Wann Leben beginnt, wann Tod es endet?
So wie Tod und Leben ihr klares Profil verloren, dehnten
und vertieften sich diagnostische Einsichten und therapeutische
Praktiken. Im Zuge der Vervielfältigung der Erkenntnis
und Eingriffschancen bis hin zu konstruktiv eingeführten
Elementen wurde ihr vergleichsweise eindeutiger Integritätsbezug
porös und an den Rand gedrängt. Er bleibt meist
nur noch als symbolischer Rest appellative Moral. Mehrere
Entwicklungen überscheiden sich. Riesige Datenmengen
können erfasst und miteinander kombiniert werden.

Entsprechende
diagnostische Apparaturen nehmen zu und beeinflussen in
wachsenden Graden, das was als „gesunde“ und/oder
„kranke“ Wirklichkeit erkannt wird. Grenzen
fransen aus. Präventive Vorgriffe nehmen zu. Wissenschaft
und Praxis betreten neue Zonen eines diagnostisch gleichsam
unterwanderten, in sich fachgeteilten Körpers. Therapie
geht von wiederherstellenden zu rekonstruktiven, ja konstruktiven
Neuerungen. Zugleich wird gerade an den Spitzen des erkennend
machenden Fortschritts wahrnehm
bar,
dass die Masse divers ermittelter Daten mit feingriffigen
Methoden physiochemischer, humangenetischer, biologisch
synthetischer und anderer Provenienz genau ortbare, kausalanalytisch
zurechenbare Abläufe nur durch erhebliche Isolation
von den weiteren auch nur organischen Kontexten erfassen
lassen. Die Fülle noch nicht erfasster oder, möglicherweise,
nicht erfassbarer Rückkoppelungsschleifen verstärken
je nach medizinischer Spezialität die diagnostischen
Unschärfen und die Risiken operativer und/oder pharmakologischer
Eingriffe. Das fachlich nicht geschulte Publikum erfährt
die Geschichte der Misserfolge und ihre „normal accidents“
nicht. Sie werden vom Lärm der globalen Konkurrenz
übertönt.


3c)

Das, was für die medizinischen Spezialdisziplinen
allgemein zutrifft, ist vor allen anderen in der Neurologie
der Fall. Schon viele der Diagnosen bleiben im Ungefähren
– a propos Genetik. Sie eilen möglichen Behandlungen
voraus. Behandlungen beruhen ihrerseits auf Erfahrungswerten,
die am behandelten Patienten bestätigt werden oder
nicht (beispielsweise, dass der Liquordruck im Hirn eines
Patienten durch mehrmaliges Punktieren u.a. mit dem Erfolg
verbesserten Gehens behoben werden könne). Ungleich
mehr aber befindet sich die Psychiatrie in einem anhaltenden
Graubereich des ungefähren Wissens und der experimentellen
Praktiken. Sie heischt einerseits die Kompetenz einer
naturwissenschaftlich objektiven Disziplin, klinisch auf
den Organkomplex des Menschen gerichtet.

Ihre
eigene Qualität als Spezialfach erhält sie jedoch
dadurch, dass sie auf abnorme, psychisch sich äußernde
Verhaltensweisen konzentriert ist, indem sie ihre Disziplin
tautologisch verdoppelt. Demgemäss diszipliniert
sie die von ihr als „psychisch Kranke“ Erkannten
in ihrem bürgerlichen Artikulations- und Bewegungsspielraum.
Von ihrer klinisch organisch behaupteten Kompetenz aus
verlängert und transformiert sie ihre Kompetenz in
einen nicht gleicher Weise organisch begrenzbaren Bereich.
Als wäre derselbe prinzipiell identisch. Man kann
das Kompetenzerschleichung nennen. Von den Gutachtern
der Psychiatrie wird denn auch dem FamFG und Olzen zufolge
nur ein „Arzt für Psychiatrie oder jedenfalls
Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie“
verlangt
(s.
Olzen S. 10 und anderen Orts). Man stelle sich einen Fall
der Chirurgie oder der Kardiologie oder … vor, woselbst
es gutachterlich genügte, ein x-beliebiger Arzt „mit
Erfahrung in Chirurgie oder Kardiologie“ zu ein.
Was heißt hier „Erfahrung“? Und wie ist
diese Erfahrung gewonnen und klinisch validiert worden?


3d)

Dass die Einsicht in ihre Grenzen, keine angemessenen
Folgen zieht, kann exemplarisch am oben vorgestellten
Fall von Herrn X illustriert werden, den das Amtsgericht
Witten und das Landgericht Bochum im Sinne des psychiatrischen
Gutachtens Dr. Mönters gegen den Kläger und
gegen dessen Bevollmächtigten entschieden hat. Das
Gutachten Olzen dient als Quelle, um den Mangel an psychiatrischer
Erkenntnis der eigenen Grenzen wahrzunehmen. Folgt man
dem Gutachter Dr. Mönter „leidet Herr X an einer
paranoiden Schizophrenie“. Später ist von einer
„akuten Psychose“ oder pauschal von „dringenden
Gründen“ die Rede. Sie sprächen für
die Annahme – gutachterlich und gerichtlich wird
immer im zweifelsfreien Modus des Indikativ festgestellt
–, „dass der Betroffene zu der für einen
solchen bewussten Verzicht erforderlichen eigenständigen
Willensbildung nicht in der Lage“ sei. Nämlich
sich gegen eine aufgenötigte anstaltliche Betreuung
als seinem „objektiven Wohl“ zu entscheiden.
Ein erstaunliches Gutachten. Ein erstaunliches Gericht,
das dieses Gutachten als Fundament seines „Beschlusses“
benutzt, Herrn X zwangseinzuweisen, zwangszubehandeln,
zwangszumedikalisieren. Darüber zwangsobjektiviert
es nicht nur Herrn X.

Es
entmündigt ihn zusätzlich, wie es den Monate
zuvor benannten Bevollmächtigten als unverantwortliches
Subjekt diskriminiert. Der Bevollmächtigte wird sozusagen
sekundär entmündigt. Untersucht man als psychiatrisch
erfahrener Laie, was über eine „paranoide Schizophrenie“
gewusst werden kann, fällt auf, wie groß, verschieden
und anhand wechselnder Symptome erkenntlich das Spektrum
der Fälle ist, das als Schizophrenie und/oder Psychose
nach dem herrschenden Gebrauch bezeichnet werden kann.4
Einsichtig wird, dass nicht nur das, was man als psychiatrischer
Gutachter darunter verstehen mag, eine genaue, eine konfigurative,
nämlich auf den einzelnen Fall bezogene Phänomenologie
voraussetzte. Einsichtig wird noch mehr – und diese
Einsicht ist diagnostisch und therapeutisch zwingend –,
dass sich gegen eine Person und ihren selbstgewählten
Bevollmächtigten gerichteter Zwang wissenschaftlich
und vom Ziel aus betrachtet, einer Behinderung abzuhelfen,
schlechterdings nicht rechtfertigen lässt. Die Validität
der phänomenalen Einsichten reichte bestenfalls dazu
aus, punktuelle Verhaltensprobleme einer Person genauer
zu bezeichnen. Die beobachteten Eigenarten können
sich zeitlich und kontextspezifisch rasch ändern.
Um sie interpretieren zu können, wäre es erforderlich,
der Gutachter deckte seine eigene Perspektive, seine Methode
und die Verlässlichkeit seiner Informationen auf.
Anders wird sein undurchsichtiges Urteil zum dumpfen Vorurteil.

Eine
auch nur annäherungshafte Analyse der pauschal enkettierten
„paranoiden Schizophrenie“ klafft ohnehin lückenhaft.
Mit deren methodologisch nachvollziehbarem Beginn höbe
erst das an, was ihr wissenschaftliche Karätigkeit
vermitteln könnte. Welcher professionellen Chuzpe
aber bedarf es, aus einer pauschal etikettierten, dem
betroffenen Subjekt entzogenen Krankheit zwangsbehandelnde
Folgen zu ziehen, deren Wirkungen ihrerseits bestenfalls
empirisch statistisch vermutet werden können. Kurz
zusammengefasst: Spätestens dort, wo die Psychiatrie
in Theorie und Praxis, in Krankenbegriff und Behandlung
ihre eigene professionelle Perspektivität und ihre
eigenen schwankenden Grundlagen – genauer: grundlegenden
Schwankungslagen – sich selbst und anderen verdeckt,
wird sie zur Unwahrheit mit Wahrheitsmaske. Sie kann ihren
eigenen ‚Stand‘ nur verteidigen, indem sie ihre
Interessen im
„objektiv“
behaupteten Zwang abschottet. Insofern psychiatrisches
Diagnostizieren und Therapieren Zwangsmittel benutzt,
sich ihnen geradezu preis gibt, hat sie allen Sublimationen
und Rationalisierungen zum Trotz die Spuren vergangener
Schrecken nicht getilgt.5


4.

Das Arzt-Patient-Verhältnis mit besonderer Berücksichtigung
des Zwangs
4a)
Das
Arzt-Patient-Verhältnis ist zentral fü
r
beide ungleichen Partner der Beziehung. Für den Arzt
und seinen Beruf: Bei Diagnose, Therapie und Prävention
können seine Kenntnis und sein anamnetisch pflegerischer
Umgang mit dem Kranken als Person den Ausschlag geben.
Für den Patienten: Nur dann kann er ohne blindes
oder unfrei aufgenötigtes Vertrauen sein ureigenes
Grund- und Menschenrecht wahren. Das ist in Art.2 Abs.1
und insbesondere in Abs.2 GG normiert.

„(1)
Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit,
soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(2)
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte
darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Wie
vermöchten eine Bürgerin und ein Bürger
ohne Furcht und Not Patientin/Patient zu werden, hätten
sie nicht primär bestimmend die Gewähr, dass
die Ärzte und ihre professionellen Institutionen
ihre Integrität aufs Äußerste wahren und
allenfalls im Grade des je gebotenen Minimums mit ihrer
Zustimmung verletzen. Auf dass sie möglichst wieder
hergestellt werde. Im Rang der zwischenzeitlich vom
Bundesverfassungsgericht
erweiternd ausgelegten „körperlichen Unversehrtheit“
ist unausgesprochen mitgesetzt, dass jede Person das gleiche
unmittelbare Recht habe, primär zu bestimmen, was
ihre Integrität ausmache, wann und wo sie diese ein
Stück weit preiszugeben bereit sei. „Unversehrtheit“
ist kein rundes Fertigprodukt. Sie ist prekär. Sie
wird von den Menschen selbst riskiert, wenn sie mit anderen
Menschen in engen Kontakt treten (Liebes- und Freundschaftsverhältnisse)
oder wenn sie sich um ihrer Heilung willen in ärztliche
Hände begeben. Hier ankert die Patientenverfügung.


4b)

Aus unterschiedlichen Gründen stand es historisch
und steht es gegenwärtig mit dem Arzt-Patient-Verhältnis
als einer von beiden Seiten aus kontrollierten beruflichen
Beziehung mit dem empfindlichen Ferment des Vertrauens
nicht zum Besten – trotz dem erhabenen Standbild,
das sich im Mittelpunkt der ärztlichen Standesethik
erhebt. Die gegenwärtigen Mängel der professionell,
institutionell und sozial immer erneut zu schaffenden
Umgangsformen zwischen Ärzten und Patienten sind
vor allem in den oben berührten Entgrenzungen der
Medizin, der präventiven Kehre der Medizin und insbesondere
der exzessiv reduzierten Ökonomie der Zeit auszumachen.
Die Arbeitszeit, die zur Verfügung steht, um die
Bedingungen der Gesundung und Gesundheit zu schaffen,
bestimmt in erheblichem, faktisch vernachlässigten
Umfang die heilende Qualität gesundheitspolitischer
Berufe allgemein und der Ärzte im Besonderen.

Eine
Art Taylorisierung eines dafür ungeeigneten „Produktionsverhältnisses“,
aus dem „Gesundheitsprodukte“ entspringen! Benjamin
Franklins frühkapitalistische Kurzformel „time
is money“ kann nicht als angemessenes, mit Art. 2
Abs. 2 GG vereinbares Geschwindigkeitsmaß des Umgangs
von Pflegerinnen und Pflegern und von Ärzten mit
Patienten erkannt und gehandhabt werden. Nimmt man die
exzessiv wachsenden und die intensiv zunehmenden Künste
der Medizin unter die Lupe, gälte im Gegensatz zum
Zeitfraß der Gegenwart das dringende Gebot, den
Patienten als Subjekt mit einem erheblich vergrößerten
Zeitmaß zurück in ein dann verändertes
Gesundheitsspiel zu bringen. Nur eine besser informierte
und dauernd mitspielend mitentscheidende Patientenschaft
kann die Risiken entgrenzter Medizin human erträglich
machen.


4c)

Wir konzentrieren uns auf den medizinischen Sonderfall
Psychiatrie. Wenn ein zeitumfänglich gefasstes Arzt-Patienten-Verhältnis
das Herz des Umgangs zwischen medizinischen Helfern, vielleicht
auch Heilern und psychisch divers behinderten BürgerPatienten
ausmachen müsste,
dann
im Falle der Psychiatrie. Nur dann wäre eine nicht
auf einmal abschließbare Anamnese möglich –
es sei denn im Sinne eines psychiatrischen, von der Kriminologie
geborgten „labeling approach“: „akute Psychose”;
„paranoide Schizophrenie“ usw., usf. Etiketten
lassen die entsprechend markierten Flaschen rasch in Richtung
vorausgewusst objektiven Wohls entleeren. Nur infolge
einer hinhörenden und aufmerkenden Kunst der Langsamkeit
könnte vermieden werden, behinderte Menschen nicht
mit bürokratisch inszeniertem Vorzwang schon anlässlich
der Diagnose in Angst und Schrecken zu versetzen. Ihnen
folgen Abwehr und Aggression. Wenn jedoch das, was die
Behinderung ausmacht, wenn ihre Genese und Funktion nicht
reduktionistisch im Sinne eines terminologischen Quickfix-Psychiatrie
abgetan werden, wenn die möglichst weitgehende (Wieder-)Herstellung
selbstbestimmter Integrität das Ziel vor allem anderen
darstellt, dann werden Artikulationen, in deren Verlauf
Behinderte über die üblichen Stränge schlagen,
werden ohnmächtige Aggressionsäußerungen
nicht von der angeblich professionalisierten Gegenseite
gewaltförmig aufgefangen und zu verhindern versucht.

Nur
historisch und aus der fortgesetzt erneuerten legitimierenden
Angst vieler Menschen vor den eigenen Abgründen ist
es verständlich – der angstbesetzten Gleitschiene
Normalität – Anormalität im eigenen Lebenszug
–, dass eine im eigenen Begriff gegebene Heilkunst
verletzter ‚Seelen‘, das heißt: Psychiatrie,
sich vor allem durch ihren ausgrenzenden Zwang selbst
und andere überzeugt. Hätte sie es mit der Psyche
von Menschen zu tun und das an erster Stelle um ihrer
Heilung willen, dann müsste eines im Zentrum eines
solchen Fachs stehen, soweit eine gesonderte Profession
erforderlich wäre: Die Selbstbestimmung derjenigen,
die problembeladen Hilfe suchen. Sie bildet die andere
Seite der Integrität. Man kann letztere nicht wollen
und die erstgenannte zerstören.

Man
kann auch eine verletzt behinderte Psyche nicht dadurch
in möglichen Maßen heilen, dass man die Selbstbestimmung
als Schlagobers professionell und notfalls zwangsweise
darauf setzt. Nehmen wir einmal nur ‚Fälle‘,
in denen nach psychiatrischem usus von „Psychose“
gesprochen wird. Abgesehen von dem falsch verdinglichten
und die so Bezeichneten verdinglichenden Begriff gibt
es in aller Regel während nicht allzulanger Zeiten
im Umgang mit Menschen, die „Psychosen tragen“,
Einschnitte, ganze Perioden, während derer sie zugänglich
sind; während derer sie sogar im bürgerlich
emphatischen Sinne in allen Geschäften „geschäftsfähig“
wären. In welchen – schon anstaltsgewaltgeprägten
?! – Umständen, wie und wie lange hat sich der
verehrliche Dr. Mönter mit Herrn X eingelas
sen?
Wie stellt er bei sich, bei uns, die wir dieses Memorandum
verfassen, bei anderen fest, dass wir „unbeeinflusst
von einer psychischen Krankheit“ „aufgrund einer
Abwägung des Für und Wider nach sachlichen Gesichtspunkten“
entscheiden? Meint die Qualifizierung „unter sachlichen
Gesichtspunkten“ bei Herrn X, er hätte im Sinne
des Psychiaters Mönter über sich selbst als
eines „psychotisch“ Entfremdeten zu befinden
gehabt? Was meint die noch viel seltsamere Beobachtung
des Psychiaters Dr. Mönter, der sein „Für
und Wider“ psychotischer Rekognition von Herrn X
mitnichten dargelegt hat, Herr X zeige noch „Ambivalenz“.

Darum
reiche die „nachhaltige Stabilisierung seiner gesundheitlichen
Situation“ in psychiatrischer Prognose nicht aus.
Absehbar sei stattdessen, „dass wiederum Zwangsmaßnahmen
erforderlich werden könnten.“ Nicht akzeptabel,
eine zukünftige Möglichkeit, die auch bei Herrn
Dr. Mönter akut werden kann, im Zwang vorwegzunehmen,
also zu erzwingen. Geradezu grotesk die unqualifizierte
Qualifizierung „Ambivalenz“. Für wen unter
den Menschen dieser Erde gälte sie nicht? Ebenso
abstrus das Verlangen „nachhaltiger Stabilisierung“.
Mitten wir im Leben sind, steckt die „Krankheit zum
Tode“ in uns allen. Wäre es um die Psychiatrie
im Wortsinne recht bestellt, nicht so, wie sie geworden
ist, und ausweislich Dr. Mönter immer noch ist, dann
müsste Dr. Mönter alles in seiner wissenschaftlichen
Analyse- und Heilmacht Stehende tun, um alle noch so sublimen
Formen von Zwang zu vermeiden. Sie mehren psychische Behinderungen
allenfalls oder decken sie tablettös zu. Für
ein funktionsadäquates Arzt-Patienten-Verhältnis
bei psychischen Behinderungen gilt jedenfalls, dass Zwang
ein solches beseitigt. Zwangspraktiken lassen schlimme
Vergangenheit mitten in der Gegenwart ahnen.


5.

Die Zwangs-Aufhebung der Psychiatrie
5a)
Bekanntlich
sind die Etymologie von Wörtern und ihre Bedeutungsgeschichte
ein eigen Ding. Sie lassen sich aber verwenden, um Hinweise
auf ihren Gebrauch und den mit ihnen verbundenen Wirkungssinn
zu erhalten. In der Variation der Bedeutungen seit ihrer
althochdeutschen Form von Zwang sticht im Deutschen Wörterbuch
der Gebrüder Grimm eine doppelte Bedeutung hervor.
Zwang meint auf eine Sache von außen her mit Gewalt
einzuwirken, „die Grundanschauung von zwingen ‚mit
der faust zusammenpressen‘“, heißt es
im 32. Band des Wörterbuchs. Später wird ihr
Sinn gegen den eigenen Willen und die Freiheit einer Person
hervorgehoben. „zwang hat sich in neuerer zeit auf
die unwillig ertragene vergewaltigung des willens, der
sittlichen
und
geistigen unabhängigkeit gewandt“, so erneut
im Grimm. Diese von uns übernommene Bedeutung hebt
jüngst Arnd Pollmann in einem philosophischen Wörterbuch
zur „Unmoral“ hervor.6
Kurzum, Zwang, gerade auch wenn er als „Selbstzwang“
verinnerlicht und der gewöhnlichen Kritik entzogen
wird, steht dem strikt entgegen, was im Sinne des allgemeinen
Rechts der Persönlichkeit und ihrer Integrität,
soweit es Art.2 GG angeht, oben angeführt worden
ist. Darum spricht die Vermutung gegen allen Zwang vor
allem dort, wo es um die Person zu tun ist. Das PatVG
normiert dieses Bestreben im Umkreis der Eingriffe moderner
Medizin. Nirgendwo, es sei denn, es werde von ihm gewünscht,
dürfen noch so kundige, noch so fürsorgliche
Ärzte und eine neuerdings technologisch genormte
instrumentelle Vernunft der ärztlichen Professionen
an die Stelle des Eigenwillens und der selbst-bestimmten
Integrität einer Person treten.

5b)

Diesem Grundsatz und seiner Konkretisierung in jedem einzelnen
Fall einer Patientenverfügung mitsamt der Wahl eines
stellvertretenden Bevollmächtigten im Fall eigener
Unfähigkeit widerspricht, die ultima ratio der Psychiatrie,
ihre Zwangslizenz und ihre gutachterliche Legitimierung
von ihr empfohlener Zwangsmaßnahmen. Der notfalls
einzusetzende Zwang wirkt zurück auf die prima ratio
medizinisch wissenschaftlicher Kompetenz psychiatrischen
Heilens. Die Drohung des Zwangs wirft lange Schatten voraus
bis zur ersten Behandlung anscheinshaft freiwilliger Diagnose.
Steht der Schatten in einer prinzipiell geschlossenen
Abteilung ummauert still, verleiht die Psychiatrie dem
Zwang die Aura wissenschaftlicher Wahrheit. Sie tritt
an die Stelle des auf seinen Körper reduzierten Mannes
oder der Frau ohne andere, als auf sie oder ihn projizierte,
psychiatrisch erfundene Eigenschaften.

5c)

Psychiatrie zwangsverbunden, wenngleich nicht mit durchgehendem
Zwangsauftritt, widerspricht sich selbst als Beruf des
Heilens (c2). Das Gebot selbstbestimmter Integrität
– und der Wahrung der Integrität um der Selbstbestimmung
willen – ist auch unabhängig von dem PatVG,
seinerseits nur Ausdruck des zeitgemäß verlängerten
Art. 2 GG (c1)

5c11)

Das Bundesverfassungsgericht hat den ersten Satz des Grundgesetzes
nach der Präambel zur „absoluten Norm“
erhoben. Art. 1 Satz 1 GG: „Die Würde des Menschen
ist unantastbar.“ Der Charakter der „Absolutheit“
kann hier undiskutiert bleiben. Entscheidend aber ist,
der in ihm enthaltene kategorische Imperativ Immanuel
Kants. Der besagt, kein Mensch dürfe primär
als Sache traktiert werden. Genau das ist aber der Fall,
wenn ein psychisch Behinderter Mensch und mag er ak
tuell
in der Tat nicht im üblichen Sinne entscheidungsfähig
sein, räumlich zwangsweise festgehalten wird, wenn
er nach einer Zwangsdiagnose mit Zwangsmitteln behandelt
wird. Auch wenn die Vergabe von Zwangsmitteln von einer
PatV ausgeschlossen werden kann, wie selbst Olzen in seinem
Gutachten einräumt, werden dadurch die Totalität
des Zwangs und der ohnmächtige Objektcharakter des
Gezwungenen im Raum der Psychiatrie nicht zureichend relativiert.
Darum müssten die zuständigen Psychiater oder
andere mit behinderten Personen befasste Personen alles
tun, Wunsch und Willen derselben herauszufinden. Ihnen
sind die Lebensräume zu geben, in denen sie, eventuell
mit Risiken, leben können – von betreuendem
Personal umgeben. Auszuschließen ist, dass dieses
Personal zwangsweise zu- und/oder eingreife, fessele,
„ruhig
stelle“ oder andere „Maßnahmen aus dem
Wörter- und Handlungsbuch des Unmenschen gebrauche.7

5c12)

Angefangen von der Entscheidung zur Volkszählung
am 15.12.1983 über die Entscheidung zu den Änderungen
des Verfassungsschutzgesetzes NRW am 27.2.2008 bis zur
Entscheidung zu Neuregelungen des Telekommunikationsgesetzes
und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen am 2.
März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Geltung
von Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Satz 1 GG den
Veränderungen der Zeit gemäß in Substanz
und Form bewahrt. Das heißt, es hat sie im strikten
Sinne genetisch und funktional analog als Sinn gefasst,
der nach der substanziellen Systematik der Grund- und
Menschenrechte intendiert ist. Alle drei Entscheidungen
befassen sich mit den sich weit und weiter entwickelnden
Möglichkeiten moderner Sammlung, Speicherung, Weitergabe
von und Einsicht in Daten, die auch im Rahmen staatlicher
Sicherung und der dazu berufenen Organe eine mit den technologischen
Möglichkeiten und der allgemeinen präventiven
Kehre verbundene zunehmende Rolle spielen. Das Bundesverfassungsgericht
kam ins Spiel, weil die verschiedenen Kläger je nach
Dateneingriff und intendierter Verwendung zentrale Grundrechte
gefährdet sahen, insbesondere solche rund um das
Persönlichkeitsrecht, das in Art.10 GG statuierte
„Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis“ und das
in Art.13 GG normierte Recht auf „Unverletzlichkeit
der Wohnung“, geschichtlich und grundrechtssystematisch
der umbaute Ring um das Grundrecht auf Integrität
der Person. Zeitgemäß neu und zukunftsgerichtet
an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und
seinen Urteilsgründen ist in steigendem Maße
ein Dreifaches.

Zum
einen wird Information (in Aufnahme, Speicherung, Weitergabe,
Verwendung) wohl begründet als eine Handlung
verstanden.
Wenn also Informationen ohne Wissen und Einverständnis
der Person über diese Person aufgenommen und weiterverwandt
werden, findet eine Verletzung der Integrität des
Menschen statt. Das ist die hauptsächliche Erkenntnis
am Beginn des Datenschutzes. Daraus erhellt das „informationelle
Selbstbestimmungsrecht des Menschen“, 1983 formuliert,
als erweitertes Abwehrrecht der grundrechtlich gewährleisteten
Integrität des Menschen. Zum zweiten wird in der
verfassungsrichterlichen Fortentwicklung nach der Entscheidung
zur Volkszählung erkannt, zunächst also in den
Entscheidungen von 2008 und 2010, dass im Zuge der technologischen
Innovationen, dort, wo sie persönlich angeeignet
werden, der schutzbedürftige Integritätsraum
einer Person wächst. Über den Körper und
über den umbauten ‚Körper‘, die eigene
Wohnung hinaus.

Jetzt
kommt der Personal-Computer und sein persönlicher
Gebrauch als gleichsam ausgeweiteter Körper hinzu,
dessen die Person zur „freien Entfaltung“ ihrer
„Persönlichkeit“ bedarf (Art.2 Abs.1 GG).
Wichtig am Schutz des PC aber ist, dass nicht der PC als
technisches Objekt dem personalen Subjekt statisch hinzugefügt
wird. Vielmehr wird der persönliche Gebrauch des
Computers im Sinne des sozialen Verkehrsraums einer Person
geschützt. Diese zutreffende Einsicht, die auf einen
Wandel sozialer Verkehrsformen vermittelt durch technische
Surrogate aufmerksam macht, hat den Augen öffnenden
Rückeffekt in Sachen „körperliche Unversehrtheit“
nach Art.2 Abs.2 GG. Auch dort darf die Unversehrtheit
nicht im status passivus verstanden werden.

Integrität
ist und wird in und durch persongebundene Aktivitäten.
Insofern sind die beiden Absätze des „Allgemeinen
Persönlichkeitsrechts“ als wechselseitig zusammenhängende
Bedingungen ihrer selbst zu begreifen. Zum dritten benutzt
das Bundesverfassungsgericht insbesondere diese –
aber auch andere – Entscheidungen dazu, um das Allgemeine
Persönlichkeitsrecht in der schäumenden Brandung
seiner Gefährdungen mit einer Reihe von Formulierungsvarianten,
aber auch verfahrensförmigen Postulaten zu sichern.
Vom schutzbedürftigen Kern privater Lebensgestaltung“
ist die Rede; vom „elementaren Lebensraum”;
davon, dass ein „absolut geschützter Bereich
privater Lebensgestaltung“ anzunehmen sei. Zum „informationellen
Selbstbestimmungsrecht“ führt es u.a. aus: „Das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht über
den Schutz der Privatsphäre hinaus. Es gibt dem Einzelnen
die Befugnis, grundsätzlich selbst über die
Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten
zu bestimmen (…). Es flankiert und erweitert den grundrechtlichen
Schutz von Verhaltensfreiheit und Privatheit, indem es
ihn schon auf der Stufe der
Persönlichkeitsgefährdung
beginnen lässt.

Eine
derartige Gefährdungsgrundlage kann bereits im Vorfeld
konkreter Bedrohungen benennbarer Rechtsgüter entstehen,
insbesondere wenn personenbezogene Informationen in einer
Art und Weise genutzt und verknüpft werden können,
die der Betroffene weder überschauen noch verhindern
kann…“.8
Dem hohen normativen Schutzwall gemäß verlangt
das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber und anderen
Institutionen, die mit seinem Schutz und gegebenenfalls
seiner Einschränkung zu tun haben, eine ganze Reihe
von Vorkehrungen und Prozessen norm- und gefährdungssystematischer
Abwägungen, wenn konkurrierende Aufgaben über
den Grundrechtsschutz hinaus hinzukommen. Beispielsweise
„präventive Zwecke der Strafverfolgung“.
Zu solchen nötigen Vorkehrungen, denen alle diejenigen
Instanzen und ihre Vertreter zu genügen haben, die
die geradezu absoluten Persönlichkeitsrechte zu relativieren
ausgehen, gehört u.a.: Das schon an den Gesetzgeber
adressierte Verlangen, die Grundrechte zu konkretisieren
(Absatz-Nr.213); drohende Gefahren, die dazu anhalten
könnten, Grundrechte einzuschränken, „konkret“
zu prognostizieren (Absatz-Nr.251); für erforderlich
erachtete Grundrechtseingriffe zu spezifizieren (Absatz-Nr.242
ff.) und schon in der Intensität der Eingriffe skrupulös
zu variieren (Absatz-Nr.233).

Vor
allem aber ist ein transparenter und kriterienklarer Prozess
der Abwägung des Persönlichkeitsrechts und seines
Schutzes mit dem möglichst distincte et clare
zu bezeichnenden Allgemeininteresse und seinen Gefährdungen
erforderlich. Den Maßstab gibt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
an die Hand. Dessen Normgewichte in der Grundrechtsschale
wiegen prinzipiell schwer (Absatz-Nr. 226 ff.). Vor allem
reicht es nicht aus, anzunehmen, man habe dem Verhältnismäßigkeitsprinzip
mit der Waagschale Grundrechte auf der einen Seite, allgemeine,
aber zu präzisierende Sicherheitsgefahren in der
Waagschale gegenüber, dadurch Genüge getan,
dass man das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
wie eine allgemeine Fetischformel apostrophiert. Es gilt
den Prozess der Abwägung argumentativ skrupulös
mit ausgepackten Begriffen vorzuführen (der alte
Warnschrei, „der Staat sei in Gefahr“, die Operation
mit Generalklauseln also, genügte den Erfordernissen
nicht: in welcher Gefahr für wen und welches Interesse,
wann, wodurch und wie).


5c13)

Per analogiam PatV und Zwangsmaßnahmen in psychiatrischem
Namen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und die
körperliche Integrität bedeuten dort am meisten,
wo es um Leben und Tod geht mit all den gemischten gesund-kranken
Zwischenstationen zwischen Beginn und Ende. Deren Ungefähr-Werden
ist eingangs an Hand der PatV als eines von deren hauptsächlichen
Motiven berührt worden. Das also, was das Bundesverfassungsgericht
mit erfreulicher, seine Institution und Funktion begründender
Emphase im Kontext der Informations- und Kommunikationstechnologien
und ihres persönlichen und politischen Gebrauchs
zu Selbstbestimmung und Integrität ausgeführt
hat, besitzt wenigstens gleiche Gültigkeit auf einem
Gebiet, wo der oft oberflächlich gebrauchte Begriff
der (persönlichen) Betroffenheit in seltener Intensität
unmittelbar zutrifft (per analogiam, sinngemäß
übersetzt: in demselben Sinne). Man wird mit dem
Bundesverfassungsgericht sogar einen Schritt weitergehen
können. Dort, wo Leib und Leben von Menschen besonders
gefährdet sind, gelten die höchst möglichen
Schutzerfordernisse. Die Waagschale des Art.2 Abs. 1 und
2 GG in Verbindung mit Art.1 Satz 1 GG, „Die Würde
des Menschen ist unantastbar“, hat schwer in die
Höhe zu ziehende Grund- und Menschenrechtsgewichte.
Welche Gefahren und Argumente könnten sie speziell
und ausnahmsweise in die Höhe schnellen lassen? Das
hat das PatVG im Bereich der Entscheidungskompetenz im
Umkreis von Leben, Gesundheit und Tod einer Person im
Kontext neuerlich und in Zukunft möglicher medizinisch
technologischer Eingriffe, Lebensverbesserungen, Lebensverlängerungen
in unausgesprochener Übereinstimmung mit den oben
berührten (und anderen) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
normativ verwirklicht.

Die
PatV gilt selbstverständlich auch für die Personen,
die psychisch behindert sind. Der hohe Integritätswert
und Integritätsschutz wachsen, soweit das überhaupt
möglich ist, mit den Gefährdungen der Integrität.
Sollte ein psychisch Behinderter verbal nicht mehr selbst
artikulationsfähig sein, sollte er außerdem
keine bevollmächtigte Person für den Fall des
Falles ernannt haben, reicht seine Körpersprache
aus, von zwangshaften Eingriffen als Grund- und Menschenrechtsverletzungen
abzusehen. Das Recht auf „körperliche Integrität“
nach Art. 2 Abs. 2 GG würde auch im Sinne der genannten
verfassungsgerichtlichen Entscheidungen unzureichend ausgelegt,
würde unter „körperlicher Unversehrtheit“
zwar ein lebendiger Körper verstanden, einer aber,
der von der „freien Entfaltung“ der „Persönlichkeit“
abgehoben werden darf. Zur körperlichen Unversehrtheit
des Menschen gehört seine seelische und geistige
Unversehrtheit hinzu. Die zuletzt genannten Unversehrtheiten
sind notwendige Implikate der körperlichen. Anders
enteignete man den menschlichen Körper zu einer organischen
Maschinerie, einem instrumentum vocale (die an
tike
Bestimmung eines Sklaven). Man begriffe den Körper
nicht. Er leibt, lebt, wird krank und stirbt bedingend
bedingt mit den eigenen seelischen und geistigen Befindlichkeiten.
Oben ist schon aufmerksam gemacht worden, dass „das
Recht auf freie Entfaltung“ der „Persönlichkeit“
wie eine leere Abstraktion verkümmerte, wäre
in ihm nicht eingeschlossen, „das Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit“ frei zu entfalten,
das heißt im Prozess des Lebens mitten in gegebenen
gesellschaftlichen Kontexten selbst zu bestimmen. Darum
gilt:

Zum
ersten: Im möglichen Konflikt zwischen der Entscheidungskompetenz
des Bürgerpatienten und des zuständigen Arztes
oder der Ärzte hat die Entscheidung des Bürgerpatienten
Vorrang. Ohne Wenn und Aber. Die letzten Endes singuläre
Entscheidungskompetenz gilt für alle Komplikationen
zwischen Leben und Tod. Die freie Person entscheidet für
sich selbst. Andere haben dafür keinen Kompetenzanspruch.

Zum
zweiten: Hat der Bürgerpatient eine schriftliche
Erklärung verfasst, in der sein medizinisches Behandlungsverlangen
im Falle verlorener eigener Artikulations- und Entscheidungsfähigkeit
im einzelnen oder in der prinzipiellen Ausrichtung eindeutig
genannt wird, ist ohne hermeneutische Kurven Folge zu
leisten. In allen fraglichen Fällen entscheidet der
vorab ernannte Bevollmächtigte (notfalls die nächsten
Angehörigen).

Zum
dritten: Ist keine schriftliche Erklärung vorhanden
oder hat sich die Situation qualitativ verändert,
entscheidet nach Absprache mit dem zuständigen medizinisch
Personal, Ärzte inklusive, der vom Bürgerpatienten
ernannte Bevollmächtigte oder, falls er nicht ernannt
ist,
befinden
die nächsten Angehörigen. Alle Leben (und seinen
Tod) mit
tiefen
Eingriffen verändernden oder medizinisch technologisch
verlängernden stellvertretenden Handlungen sind ohne
ausdrückliches, klar und eindeutig artikuliertes,
gegebenenfalls übertragenes Wollen ausgeschlossen.


5c2)

Auf die Psyche des Menschen gerichtete Heilberufe

5c21)

Psychiatrie, Grund-und Menschenrechte: Die Psychiatrie
hat es schwer mit ihrer Geschichte, schwer auch sie los
zu werden. Sie hängt eng mit dem Teil der modernen
Entwicklung und der lang bis hin zu Kant (und darüberhinaus)
dominierenden Geschichte der Aufklärung zusammen,
die Freiheit und Zwang, Erziehung und Zwang, Personwerden
und Disziplinieren wenigstens zeitweise im Leben von Menschen
und Personen als wechselseitig konstitutiv erklärt
hat. Die „Schwarze Pädagogik“ war nicht
nur eine Institution der Einübung von ge
horsamen
Untertanen, sondern prägte auch antisokratische pädagogische
Besserwisserei. „Der Mensch, der nicht geschunden
wird, wird nicht erzogen.“ In diesem Sinne steht
für die Psychiatrie ein radikaler Wandel an. Sie
hat auf dem Boden von Grund-, Menschenrechten zu gedeihen.
Die Verführung liegt freilich nahe, psychiatrischen
Funktionären den aus diversen Gründen zunehmenden
Kontrolleinrichtungen zuzuschlagen und Kontrolle pseudowissenschaftlich
bequem als Sachzwang auszugeben.

Zu
einer medizinisch informierten, in jedem Fall nicht naturwissenschaftlich
medizinisch fehlorientierten Profession, könnte die
Psychiatrie aber nur werden, wenn sie sich radikal von
ihrer zwangsbegleiteten, Zwang bereitenden, Zwang legitimierenden
Geschichte und starken Resten der Gegenwart emanzipierte,
sprich sich selbst aus dem Zwangsgriff befreite, der ihre
Heilchancen würgt. Dann könnte sie, selbstredend
sozial kontextanalytisch ausgebaut, in einen spannenden
Prozess eintreten, die Fülle periodisch erneuerter
psychischer Behinderungen herauszufinden und wie zur eigenen
Emanzipation auch ein Stück zu der Emanzipation Behinderter
beitragen. Zwang und ebenso Erkenntnisse wie Therapien
in Sachen psychischer Schwierigkeiten jedenfalls schließen
sich aus. Eine Psychiatrie, die in ihren Vertreterinnen
und Vertretern Zwang benutzt, der mit den Diagnosen anhebt,
widerspricht den Grund- und Menschenrechten. Sie lebt
von deren zwanghaftem Gegenteil, das sie selbst mitproduziert
(und sei es nur um der Positionen und Moneten willen).
Die Zwangsprojektionen schlagen bumeranghaft zurück.


5c22)

Zwangsfrei allein kann Psychiatrie wahrheitsgerichtete Wissenschaft
und Praxis werden. Ihre Diagnosen und Therapien leiden selbst
dort, wo sie zwanglos verfährt unter der Arroganz sicheren
Wissens. Solche Arroganz macht sie, wie andere psychologische
Varianten, als Profession im Strafvollzug prognosefähig.
Gerade

weil
die Genese und die persönlichen Verhaltenseffekte psychischer
Behinderungen meist nicht ohne weiteres ermittelt, noch
weniger frei von Ambivalenzen und unscharfen Ausdrücken
begriffen werden können,

weil
es von der Ethnologie abgeguckter, nicht einfach kopierter,
hinhörender, hinsehender, einfühlsamer, psychisch
Behinderte als Subjekte wahrnehmender Methoden bedarf,
gerade darum sind ein Erkenntnisinteresse und später
folgende sacht vorsichtige Umgangsformen vonnöten
– immer rückversichert beim Bürgerpatienten
als Subjekt –, die dem pseudosicheren, pseudoszientischen
Stiefeltritt ebenso abhold sind, wie den Nagelschuhen
des Zwangs.

Erste
Nachschrift

Nach
Bald nötige Schritte, sonst besteht die Gefahr, dass
die PatV wenigstens für einen Teil der Bürger
nicht Wirklichkeit oder sogar pervertiert werde: Diese
Schritte müsste vor allem der Gesetzgeber in Bund
und Ländern und müssten die Gerichte, notfalls
auch das Bundesverfassungsgericht gehen. Damit nicht aus
gerade gesetztem Recht, siehe PatVG, neu altes Unrecht
werde. Gegen das Prinzip der normativ im Sinne des Bundesverfassungsgerichts
gerahmten Verhältnismäßigkeit und der
ihr entsprechenden Güterabwägung. Die mit der
PatV und mit ihren Verletzungen qua Psychiatrie befassten
Gerichte hätten sich von ihrer rechtswidrigen Buckelung
vor und unter psychiatrische Gutachten, die sie ihrerseits
nicht rechtmäßig auseinandernehmen, zu befreien:
damit grundrechtsfundierter demokratischer Rechtsstaat
sein könne.9

Erster
Schritt:
Dringend grundrechtlich rechtsstaatlich
zu wünschen ist, auch um der grundrechtsbasierten
Einheit der Rechtsordnung willen, dass die Selbstbestimmungslogik
auch für die anderen einschlägigen Paragraphen
des BGB gefolgert werde. Siehe vor allem in verschiedener
Weise die §§ 1896 ff., insbesondere § 1906.

Zweiter
Schritt:
Die Bestimmungen des FamFG (Gesetz über
das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit) vom 17. Dezember 2008,
bedürfen in den einschlägigen, Zwangsmaßnahmen
konzedierenden Paragraphen, insbesondere §§
270 ff restloser „Entgewaltigung“. Im Sinne
des PatVG und der Interpretation des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts
und humaner Integrität durch das Bundesverfassungsgericht.
(Es fällt übrigens auf, dass in der Taschenbuchsammlung
„Familienrecht“ (FamR) – dtv 5577, München
2009 –, in dem Auszüge des FamFG enthalten sind,
neben anderen
Auszügen
aus dem BGB, just die §§ 1901a ff ebenso fehlen,
wie unter den Dokumenten im Teil D „Internationales
Familienrecht“, das vom Bundestag übernommene
„Übereinkommen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen“)

Dritter
Schritt:
In allen von den Parlamenten der Bundesländer
erlassenen PsychKGe ist eine Bereinigung der Rechtsordnung
von ihren Zwangselementen ein erster notwendiger Schritt.

Vierter
Schritt:
Als Großprogramm für die Jahre
nach 2010, eine zu terminierende Reform der Psychiatrie,
um sie grund- und menschenrechtlich zu ermöglichen.

Zweite
Nachschrift

Die
eben verlangte überfällige Psychiatriereform
hätte das von den Vereinten Nationen verabschiedete
„Übereinkommen über die Rechte von Men
schen
mit Behinderungen“ institutionell und prozedural
länderspezifisch
umzusetzen.
Sonst bliebe die Verabschiedung dieses Übereinkommens
durch den Deutschen Bundestag 2008 vergebens, genauer:
nicht einmal ein frommer Betrug.

Anmerkungen

1
Empfehlung
der Bundesärztekammer und der
ZEKO zur Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung
April/Mai 2010 S. A 879
2
vgl.
Stellungnahme der DGPPN Nr. 3/15.04. 2010 Auswirkungen
des Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (Patientenverfügungsgesetz)
auf die medizinische Versorgung psychisch Kranker:
Rechtsgutachten und Stellungnahme der DGPPN
3
Gutachten
von Professor Dr. Dirk Olzen Geschäftsführender
Direktor des Instituts für Rechtsfragen der Medizin
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
vom 02.12.2009
4
vgl.
für einen ersten Überblick zu Psychose und
Schizophrenie Wikipedia; siehe außerdem die
ICD, das heißt die International Classification
of Deseases die der WHO beispielsweise F20-F29 Schizophrenia,
schizotypal and delusional, and other non-mood psychotic
disorders
5
Die
Literatur ist fast unabsehbar. Nur zur ersten Information
vgl. Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre
Opfer, Ffm 1997; Angekinka Ebbinghaus/Klaus Dörner
(Hg,):Vernichten und Heilen. Der Nürnberger
Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001;
Hans-Walter Schmuhl: Grenzüberschreitungen.
Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik 1927 – 1945,
Göttingen 2005
6
Arnd
Pollmann: „Unmoral“. Ein philosophisches
Handbuch. Von Ausbeutung bis Zwang, München 2010
7
siehe
Storz/Sternberger/Süskind, Aus dem Wörterbuch
des Unmenschen, vgl. Viktor Klemperer, LTI (Lingua
Tertii Imperii)
8
BverfG,
1BvR 370/07 vom 27.2.2008
, Absatz-Nr.198
9
vgl.
nach wie vor wegweisend das Urteil des OLG Dresden
1902 im Fall des Senatspräsidenten a D. Daniel
Paul Schreber. „Das OLG Dresden“, schreibt
Walter Kargl in seiner ihrerseits lange zurückliegenden
trefflichen Darstellung und Analyse, „hatte jenen
Hiatus zwischen dem Wahnsinn als medizinischem Problem
und der Einsperrung als juristischem Problem gesehen;
es hatte aus seinem Mißtrauen gegenüber
der obligaten Gleichsetzung von Internierung und Behandlung
keinen Hehl gemacht, es hatte im Dilemma der

‚therapeutischen
Zwangsbeglückung‘ (Klaus Dörner) für
das kranke Individuum Stellung bezogen und sich nicht
aus der eigenen Verantwortung entlassen, es hatte
also Schrebers gestörte Menschlichkeit und deren
Ringen nach Wiederherstellung in seltener Einfühlung
erst genommen. …“ Und das mitten in Kaisers
Zeiten autoritärer Regierungsform vor allen Grundrechten.
Siehe Kargl: Jurisprudenz der Geisteskrankheit, in:
Leviathan Jg.5 (1977), S.301-332, S.303

Zu
den Autoren

Wolf-Dieter
Narr ist em. Professor für Politikwissenschaft am
Otto-Suhr-Institut, Freie Uni
versität
Berlin. Er ist Mitbegründer des Komitee für
Grundrechte und Demokratie.

Die
Rechtsanwälte Alexander
Paetow
, Thomas
Saschenbrecker
und Dr.
Eckart Wähner
haben jahrelange Erfahrung in Betreuungs-
und Unterbringungsverfahren. Sie haben sich in der
„Arbeitsgemeinschaft
Patientenverfügung der Rechtsanwälte“
zusammen geschlossen. Ihrer Meinung nach ist die PatVerfü®
die Patientenverfügung zum Erhalt der Selbstbestimmung
für alle Bürger/-innen.


Dieser
Text ist erstmals in dem Buch „Irren-Offensive
30 Jahre Kampf für die Unteilbarkeit der Menschenrechte.“
,
Verlag AG SPAK Bücher
erschienen und wird
mit freundlicher Genehmigung der Autoren hier veröffentlicht.

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