Neues Deutschland - Donnerstag, 15. Mai 2008
Die Freiheit hängt an einem einzigen Wort
Kritische Juristen prangern Zwangsbetreuung an und fordern Umsetzung der UN-Konvention

Von Susanne Härpfer

Zwangsbetreuung müsste in Deutschland eigentlich der Vergangenheit angehören. Denn seit dem 3.Mai ist die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen international in Kraft. 20 Länder haben sie ratifiziert; nicht so Deutschland. Wäre dies der Fall, müssten Betreuungsgesetze geändert werden. Das Thema betrifft mehr als 1,2 Millionen Menschen.

»Betreten Sie nie ein Krankenhaus ohne Ihren Anwalt.« Dies ist kein Satz aus einer Seifenoper im Fernsehen, sondern ein Ratschlag des Juristen Alexander Paetow. Eindringlich warnt er: »Sprechen Sie nicht mit Psychiatern. Sagen Sie nichts ohne einen Anwalt. Alles kann gegen Sie verwendet werden.« Diese Regeln sind keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Rechtsexperten, sondern können den Unterschied ausmachen zwischen einem Leben mit und ohne Menschenrechte.

Dies belegt der Fall von Stefan F. (Name geändert). Der Teeladenbesitzer kam nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus. Als er sich nach der Reha wieder um seinen Laden kümmern wollte, hatte die Klinik über das Amtsgericht eine »Betreuung« erwirkt. Früher hieß die Entrechtung von Menschen noch Entmündigung. Heute klingt es harmloser, ist es aber nicht. Der Betreuer warnte Lieferanten, Stefan F. stehe unter Betreuung und sei quasi insolvent. F. begann einen verzweifelten Kampf, schaltete einen Anwalt ein und informierte das Fernsehen. Erst kürzlich konnte er den Betreuer loswerden und den Teeladen retten.

Kein Einzelfall: Missliebige Nachbarn, Kollegen, Krankenhauspersonal, Verwandte oder die Bank, bei der man das Konto überzogen hat – alle können beim Amtsgericht Betreuung »anregen«. Treffen kann es jeden. Wer nicht sofort einen kundigen Anwalt einschaltet, kann entmündigt werden und alles verlieren.

Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hat in einem kürzlich erschienenen Gutachten belegt: Das gängige Betreuungsrecht in Deutschland verstößt gegen die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen. Das Gutachten könnte helfen, die Willkür bei der Zwangsbetreuung zu beenden. Voraussetzung wäre die Umsetzung der UN-Konvention, die von Deutschland paraphiert, aber noch nicht unterschrieben worden ist. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, deutsche Gesetze entsprechend anzupassen – dann darf es »keine Zwangsbehandlung gegen den bekundeten Willen mehr geben«, lautet die Expertise von Kaleck.

Post vorenthalten, Konten gesperrt
Prof. Volker Thieler, Anwalt aus München, kämpft seit Jahren gegen Zwangsbetreuungen. Selbst der Schutz der Familie könne außer Kraft gesetzt werden. »Der Richter kann behaupten, die Angehörigen seien zu weit weg, es ginge ihnen nur ums Geld, sie seien zu alt, oder er schiebt ihnen Alkoholismus unter. Nicht einmal der Ehepartner hat ein Recht auf Akteneinsicht«, erklärt Thieler. Und es sei sehr schwierig, das anzufechten. Ein Betreuer könne alles entscheiden: ob der Schutzbefohlene telefonieren, Post entgegennehmen oder aus dem Haus gehen darf. Er kann erwirken, dass der Betreute seine Wohnung verliert und in eine geschlossene Anstalt kommt. Der Jurist weiß sogar von Fällen, bei denen die Bank dem Vormundschaftsgericht einen Hinweis gab, weil jemand weniger Geld als früher hatte. Selbst Pflegepersonal habe schon versucht, auf diese Weise unliebsame, störrische Angehörige auszuschießen.

Dann geht alles schnell. Es entscheidet ein Richter, der tausende Anträge auf den Tisch bekommt. Gibt es z. B. Anzeichen dafür, dass »jemand nicht mit Geld umgehen kann«, was in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit jeden treffen kann, werden ihm die Konten gesperrt. Und der Richter kann einen Gutachter zum Betroffenen schicken.

»Reagieren Sie dann sofort. Kontaktieren Sie einen Anwalt, der nicht selber vom Gericht Betreuung vermittelt bekommt«, rät auch René Talbot, Sprecher der Bundesgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener, dringlich. Er weiß, wie rasch Gutachter Menschen sogar für psychisch krank erklären. Und mit der Begründung kann jeder entmündigt werden.

In Bayreuth spielt sich ein Fall ab, der zeigt, wie fragwürdig das ganze Verfahren generell ist. Dort versuchen Nachbarn einen Richter unter Zwangsbetreuung stellen zu lassen, der diese selbst anordnen kann. Streitbarer Jurist klingt positiv, streitsüchtiger Psychopath klingt anders – und schwups, kam das Betreuungsverfahren gegen Richter XY in Gang. Sollten sich die Nachbarn vor Gericht durchsetzen, kann der 60-Jährige nicht mehr über sich selbst bestimmen. Und alles wegen eines Streits um einen Hartriegelbusch mit zirka 20 Einzelstämmen unterschiedlicher Dicke und Höhe. Kollegen spielten offenbar mit, die dem einstigen Verkehrsrichter wegen vermeintlicher Milde gegen Raser Rechtsbeugung vorwerfen. Hierfür hätte Richter XY die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis und den Verlust aller Pensionsansprüche hinnehmen müssen. Richter XY legte Revision ein, und der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe gab dem statt. Der Fall beschäftigt inzwischen das bayerische Justizministerium.

René Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener berichtet: »Es kann ausreichen, dass Sie einen Angehörigen ins Krankenhaus begleiten. Dann sollen auch Sie im Krankenhaus bleiben.« Immerhin gebe es »Fangprämien«, die den Verteilungskampf der Kliniken in städtischen Großräumen kennzeichnen.

Talbot schildert ein Beispiel: »Sie weigern sich zu bleiben. Das Pflegepersonal erklärt Sie für aufgeregt und fordert Sie auf, ein Beruhigungsmittel zu nehmen. Sie weigern sich wieder. Das Pflegepersonal provoziert Sie, Sie wehren sich. Schon liegt Eigen- und Fremdgefährdung vor. Das Personal wird sich immer decken. Schon werfen sich die Pfleger auf Sie, fixieren Sie und geben Ihnen eine Spritze. Am nächsten Morgen finden Sie sich ans Bett gefesselt in der geschlossenen Psychiatrie wieder. Die Stationsleiterin erpresst Sie: Nur wenn Sie Psychopharmaka schlucken, kommen Sie frei. Ein Richter erscheint für fünf Minuten und findet Sie völlig verstört vor – kein Wunder bei diesen kafkaesken Ereignissen. Nur: Wem wird er wohl glauben – Ihnen oder der Oberärztin? So bleiben Sie eingesperrt für mindestens zwei Wochen. Es kommt noch schlimmer. Dieselbe Oberärztin hat die Zwangsbetreuung beantragt. Wenn eine Chefärztin jemanden im Eilverfahren entmündigen will, glauben Sie, der Amtsrichter stellt dies in Frage? Eigentlich sollte er es. In dem konkreten Fall hat ein Anwalt das Unglück abwenden können. Aber so etwas ist kein Einzelfall«, sagt Talbot.

»Man verliert den Glauben an den Rechtsstaat, wenn man wie ich über Jahre die Betreuungsmaschinerie erlebt«, stellt auch Prof. Thieler fest. »Keiner will es gewesen sein. Der Richter schiebt es auf den Arzt, und der schiebt es auf den Gutachter.« Dabei gäbe es eine Möglichkeit, die Freiheit jedes einzelnen zu sichern. Dann nämlich, wenn Patientenverfügungen nicht erst kurz vor dem Tod gelten würden, sondern ohne zeitliche Beschränkung. Einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf haben die Bundestagsabgeordneten Michael Kauch (FDP) und Joachim Stüncker (SPD) eingebracht. Dagegen machen Unionspolitiker um ihren Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder gerade Stimmung.

Freier oder natürlicher Wille?
Dabei müssten sie nur ein einziges Wort ändern. Derzeit gilt: Gegen seinen freien Willen darf niemand unter Betreuung gestellt werden. Doch es genügt, dass behauptet wird, man könne eine Maßnahme nicht richtig beurteilen – schon darf sich ein Richter darüber hinwegsetzen. Was der sogenannte »freie Wille« ist, bestimmen immer noch Psychiater, andere Gutachter, Richter. Deshalb fordern Betreuungskritiker, per Gesetz zu verankern, dass nichts gegen den »erklärten, natürlichen Willen« eines Menschen getan werden darf. Was für Laien identisch klingt, markiert einen wichtigen Unterschied. Denn gegen den »natürlichen, erklärten Willen«, so haben es Juristen definiert, darf niemand etwas tun – auch nicht Psychiater oder Richter.


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