Bundesarbeitsgemeinschaft
Psychiatrie-
Erfahrener e.V.
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Dienstag, den 17.12.2024 um 17h
Der Rassismus der Psychiatrie und die tödliche Verbundenheit zwischen deutscher und internationaler Psychiatrie
Die Ermordung von Menschen in deutschen Institutionen und die Rolle der Psychiatrie können nur im Rahmen der Vorstellung einer „wissenschaftlichen Verwaltung“ von Bevölkerungen verstanden werden. Diese Vorstellung, auch „scientific management“ genannt, entwickelte sich zum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und ist in unterschiedlichen nationalen und politischen Kontexten verschieden realisiert worden. In allen westlichen Staaten konzentrierten sich Regierungen zunehmend auf zwei Fragen:
von Thomas Foth
Einerseits, wie die Gesundheit und Effizienz der Nation gesteigert werden könnte, und, andererseits, wie Gewohnheiten, Lebensstile und Aktivitäten der individuellen Bürger_innen dahingehend beeinflusst werden könnten, diese Bürger_innen effizienter zu machen.
Die Psychiatrie spielte dabei eine entscheidende Rolle, weil sie beide Dimensionen als ihr Aufgabegebiet ansah, wie z. B. in der sogenannten Psychohygiene Bewegung (mental hygiene in den USA und Kanada). Eine Regierung musste von diesem Zeitpunkt an auf wissenschaftlicher Expertise beruhen und diese „Regierung der Experten“ sollte, basierend auf objektivem und neutralem Wissen, die soziale Ordnung wissenschaftlich verwalten. In dieser Vorstellung war das Individuum Teil einer sozialen Maschine mit bestimmten Verpflichtungen und der Staat hatte das Recht, in das Leben von Individuen einzugreifen, wenn es dem Wohl der Nation dienen würde. Sterilisierungen waren nichts weiter als eine Form von polizeilicher Intervention und eine Form von Sozialverwaltung.
Diese Konzeption lag dem NS-Staat zugrunde. Wissenschaftliche Expertise sollte die Grundlage für politische, rationale Entscheidungsprozesse sein. Die Ermordung von Menschen war letztlich nur ein Aspekt einer Politik, die auf die Steigerung der Effizienz des Lebens als solchem abzielte. Dies lässt sich auch an Projekten wie der deutschen Krebsforschung ablesen, oder daran, dass NS Mediziner einen Krieg gegen das Rauchen führten, gegen Asbest Belastungen kämpften, oder den übermäßigen Gebrauch von Medikamenten und Röntgenbestrahlungen kritisierten.
Die Eugenik und später die Ermordung von Menschen war Teil einer NS-Präventions-medizin, die durchaus dem Stand internationaler Wissenschaft entsprach. Während des 20. Jahrhunderts gab es weltweit keine klare Unterscheidung zwischen Präventivmedizin und Eugenik, d. h. zwischen dem Streben nach Gesundheit und der Eliminierung von „Untauglichkeit“. Diese Form von Macht war ein komplexes Zusammenspiel von Management des Lebens und Management des Todes. Die USA wurden Vorreiter in der gesetzlichen Implementierung von Zwangssterilisationen als zentralem Mittel in Programmen zur Beschränkung der Reproduktion der „Untauglichen“. Bereits im Jahre 1907 wurden in Indiana, als dem ersten Bundesstaat weltweit, Zwangssterilisationen legalisiert. Zwischen 1909 und 1939 führten circa 30 Bundesstaaten solche Gesetze ein. Nachdem viele dieser Gesetzgebungen gerichtlich angefochten wurden, entwarf Harry Hamilton Laughlin in Zusammenarbeit mit Juristen ein Modell-Sterilisationsgesetz, das letztlich zur Vorlage des „Rassenhygiene“ Gesetzes der Nazis im Jahre 1934 wurde. In den Jahrzehnten vor Beginn des 2. Weltkriegs wurden schätzungsweise 60.000 Menschen in den USA zwangssterilisiert.
In der kanadischen Provinz Alberta wurde ein ähnliches Gesetz im Jahre 1928 eingeführt, das bis 1988 bestand und dem ca. 2.800 Menschen zum Opfer fielen. Bereits 1910 gründeten die USA das Eugenic Record Office (ERO) in Cold Spring Harbor, Long Island, das zum intellektuellen Zentrum für eugenische Politik wurde und besonders in Bezug auf Sterilisationen bedeutsam war. Das genetische und biologische Forschungsprogramm des ERO wurde von dem Biologen Charles Davenport geleitet, der beste Beziehungen zur Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene unterhielt.
Die Psychiatrie spielte dabei eine entscheidende Rolle, weil sie beide Dimensionen als ihr Aufgabegebiet ansah, wie z. B. in der sogenannten Psychohygiene Bewegung (mental hygiene in den USA und Kanada). Eine Regierung musste von diesem Zeitpunkt an auf wissenschaftlicher Expertise beruhen und diese „Regierung der Experten“ sollte, basierend auf objektivem und neutralem Wissen, die soziale Ordnung wissenschaftlich verwalten. In dieser Vorstellung war das Individuum Teil einer sozialen Maschine mit bestimmten Verpflichtungen und der Staat hatte das Recht, in das Leben von Individuen einzugreifen, wenn es dem Wohl der Nation dienen würde. Sterilisierungen waren nichts weiter als eine Form von polizeilicher Intervention und eine Form von Sozialverwaltung.
Diese Konzeption lag dem NS-Staat zugrunde. Wissenschaftliche Expertise sollte die Grundlage für politische, rationale Entscheidungsprozesse sein. Die Ermordung von Menschen war letztlich nur ein Aspekt einer Politik, die auf die Steigerung der Effizienz des Lebens als solchem abzielte. Dies lässt sich auch an Projekten wie der deutschen Krebsforschung ablesen, oder daran, dass NS Mediziner einen Krieg gegen das Rauchen führten, gegen Asbest Belastungen kämpften, oder den übermäßigen Gebrauch von Medikamenten und Röntgenbestrahlungen kritisierten.
Die Eugenik und später die Ermordung von Menschen war Teil einer NS-Präventions-medizin, die durchaus dem Stand internationaler Wissenschaft entsprach. Während des 20. Jahrhunderts gab es weltweit keine klare Unterscheidung zwischen Präventivmedizin und Eugenik, d. h. zwischen dem Streben nach Gesundheit und der Eliminierung von „Untauglichkeit“. Diese Form von Macht war ein komplexes Zusammenspiel von Management des Lebens und Management des Todes. Die USA wurden Vorreiter in der gesetzlichen Implementierung von Zwangssterilisationen als zentralem Mittel in Programmen zur Beschränkung der Reproduktion der „Untauglichen“. Bereits im Jahre 1907 wurden in Indiana, als dem ersten Bundesstaat weltweit, Zwangssterilisationen legalisiert. Zwischen 1909 und 1939 führten circa 30 Bundesstaaten solche Gesetze ein. Nachdem viele dieser Gesetzgebungen gerichtlich angefochten wurden, entwarf Harry Hamilton Laughlin in Zusammenarbeit mit Juristen ein Modell-Sterilisationsgesetz, das letztlich zur Vorlage des „Rassenhygiene“ Gesetzes der Nazis im Jahre 1934 wurde. In den Jahrzehnten vor Beginn des 2. Weltkriegs wurden schätzungsweise 60.000 Menschen in den USA zwangssterilisiert.
In der kanadischen Provinz Alberta wurde ein ähnliches Gesetz im Jahre 1928 eingeführt, das bis 1988 bestand und dem ca. 2.800 Menschen zum Opfer fielen. Bereits 1910 gründeten die USA das Eugenic Record Office (ERO) in Cold Spring Harbor, Long Island, das zum intellektuellen Zentrum für eugenische Politik wurde und besonders in Bezug auf Sterilisationen bedeutsam war. Das genetische und biologische Forschungsprogramm des ERO wurde von dem Biologen Charles Davenport geleitet, der beste Beziehungen zur Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene unterhielt.
KZ-Hadamar nach Ankunft der US-Army: Exhumierung der Opfer
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Harry Hamilton Laughlin leitete das ERO. Er vertrat konsequent die negative Eugenik und hatte über mehr als 20 Jahre entscheidenden Einfluss auf die Zwangsterilisationspolitik der USA. Laughlin war Vize-Präsident des von NS Wissenschaftlern organisierten „International Congress for Population Science“ in Berlin 1935. Außerdem erhielt er 1936 zusammen mit dem Neurologen John Foster Kennedy – wir kommen später auf ihn zurück – einen Ehrendoktor der Universität Heidelberg; verliehen vom Dekan der Medizinischen Fakultät und Professor für Rassenhygiene Carl Schneider.
Es war eben jener Carl Schneider, der für die Tötungen im Rahmen der T4 Aktion und die Zwangssterilisationen in Deutschland als wissenschaftlicher Berater ausschlaggebend mit verantwortlich war. In seiner Dankesrede betonte Laughlin seine tiefe Anerkennung für das Rassenhygienische Programm der Nazis. Bis in die 1940er Jahre hinein unterhielten US-Amerikanische Eugeniker und Psychiater weitreichende Netzwerke zu ihren deutschen Kollegen. Selbstverständlich gab es auch in den USA kritische Stimmen gegen die Eugenik, insbesondere zum Ende der 1930er Jahre, als der eugenische Diskurs sich mehr und mehr mit einem antisemitischen verquickte (was allerdings Vertreter wie Laughlin unbeeindruckt ließ). Trotzdem gab es niemanden in der US-scientific community, der öffentlich und kompromisslos die Politik der NS Eugenik und Euthanasie kritisiert hätte.
Wie weit die gegenseitige Anerkennung ging und vor allem, wie weit sich die wissenschaftlich-politischen Programme beider Staaten überschnitten, zeigt auch die öffentliche Debatte in den Jahrzehnten vor dem 2. Weltkrieg zwischen amerikanischen, britischen und deutschen Eugenikern über den möglichen Gebrauch von „Tötungskammern“ (lethal chambers) zur Ermordung von „Unbrauchbaren“ (defectives). Das damalige Standardwerk für Eugenik „Applied Eugenics“, wurde gemeinsam von Paul Popenoe, der über beste Verbindungen zu deutschen Eugenikern verfügte und das Rassenprogramm der Nazis offen unterstützte, und Roswell H. Johnson veröffentlicht. Sie kamen zu dem Schluss, dass „von einem historischen Standpunkt aus gesehen […] die erste Methode, die sich anbietet, die Exekution ist […] Ihr Wert in der Aufrechterhaltung des Standards einer Rasse sollte nicht unterschätzt werden“ (zitiert nach Black 2003, S. 251).
Vor diesem Hintergrund interessant und aufschlussreich ist eine Debatte aus den Jahren 1941/1942 zwischen dem schon oben genannten Neurologen Foster Kennedy und dem Kinder-Psychiater Leo Kanner. Beide hielten im Mai 1941 (also kurz vor dem offiziellen Ende der Aktion T4 in Deutschland) einen Vortrag über das Für und Wider der Ermordung geistig Behinderter auf der 97. Jahresversammlung der American Psychiatric Association, der Dachorganisation der amerikanischen Psychiater. Ihre Beiträge wurden im Juli 1942 im American Journal of Psychiatry (der angesehensten psychiatrischen Fachzeitschrift und dem offiziellen Organ der American Psychiatric Association) abgedruckt, allerdings ergänzt mit einem anonymen Kommentar der Herausgeber. [Text Foster Kennedy – Text Leo Kanner – Kommentar der Herausgeber – „The 1942 ‘euthanasia’ debate in the American Journal of Psychiatry“ von Jay Joseph, 2005]
Zu diesem Zeitpunkt gab es in den USA bereits Reportagen über die systematische Ermordung von mehr als 100.000 Menschen durch die Nazis. Kanner bezog sich in seinem Beitrag sogar kurz auf diese Enthüllungen. Das allerdings hinderte Kennedy und die Verfasser des Kommentars nicht daran, offen für die Tötung von „schwachsinnigen“ Kindern einzutreten. Kennedy war weltweit anerkannt, Professor an der Cornell University und seit 1940 der Vorsitzende der „American Neurological Association“ und, wie bereits erwähnt, Ehrendoktor der Uni Heidelberg. Er war ein bekanntes Mitglied der Euthanasia Society in den USA und ein entschiedener Befürworter der Ermordung von Menschen mit geistigen Behinderungen. 1939, drei Jahre nach der Verleihung des Ehrendoktor-Titels durch das NS Regime, trat Kennedy aus der Society aus, weil diese seiner Meinung nach zu sehr auf freiwillige Sterilisierungen setzte. In seinem Beitrag von 1942 vertrat er eine ähnliche Argumentationslinie wie Binding/Hochte in ihrem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von 1920.
„Euthanasie“ sollte für solche Menschen gelten, „die eigentlich nie hätten geboren werden sollen – Fehler der Natur“. Sein Vorschlag war, „fehlerhafte Kinder“, die das Alter von fünf Jahren erreichten, von einem „medizinischen Ausschuss“ begutachten zu lassen, und wenn nach mehreren Monaten und mindestens drei Begutachtungen der Ausschuss zu der Schlussfolgerung käme, dass diese „fehlerhaften“ Kinder „keine Hoffnung auf eine Zukunft“ hätten, wäre es „eine barmherzige und gute Sache sie von diesen Defekten [defectives] zu erlösen … von der Agonie des Lebens“. Die Wörter, die Kennedy in seinem Beitrag verwendete, waren die Standardbegriffe der psychiatrischen Genetik und der NS-Literatur. Sein „Opponent“ Kanner sprach sich zwar gegen die „kaltblütige Ermordung tausender Menschen aus“ aber mehr aus strategischen, denn aus grundlegenden Überlegungen.
Es war eben jener Carl Schneider, der für die Tötungen im Rahmen der T4 Aktion und die Zwangssterilisationen in Deutschland als wissenschaftlicher Berater ausschlaggebend mit verantwortlich war. In seiner Dankesrede betonte Laughlin seine tiefe Anerkennung für das Rassenhygienische Programm der Nazis. Bis in die 1940er Jahre hinein unterhielten US-Amerikanische Eugeniker und Psychiater weitreichende Netzwerke zu ihren deutschen Kollegen. Selbstverständlich gab es auch in den USA kritische Stimmen gegen die Eugenik, insbesondere zum Ende der 1930er Jahre, als der eugenische Diskurs sich mehr und mehr mit einem antisemitischen verquickte (was allerdings Vertreter wie Laughlin unbeeindruckt ließ). Trotzdem gab es niemanden in der US-scientific community, der öffentlich und kompromisslos die Politik der NS Eugenik und Euthanasie kritisiert hätte.
Wie weit die gegenseitige Anerkennung ging und vor allem, wie weit sich die wissenschaftlich-politischen Programme beider Staaten überschnitten, zeigt auch die öffentliche Debatte in den Jahrzehnten vor dem 2. Weltkrieg zwischen amerikanischen, britischen und deutschen Eugenikern über den möglichen Gebrauch von „Tötungskammern“ (lethal chambers) zur Ermordung von „Unbrauchbaren“ (defectives). Das damalige Standardwerk für Eugenik „Applied Eugenics“, wurde gemeinsam von Paul Popenoe, der über beste Verbindungen zu deutschen Eugenikern verfügte und das Rassenprogramm der Nazis offen unterstützte, und Roswell H. Johnson veröffentlicht. Sie kamen zu dem Schluss, dass „von einem historischen Standpunkt aus gesehen […] die erste Methode, die sich anbietet, die Exekution ist […] Ihr Wert in der Aufrechterhaltung des Standards einer Rasse sollte nicht unterschätzt werden“ (zitiert nach Black 2003, S. 251).
Vor diesem Hintergrund interessant und aufschlussreich ist eine Debatte aus den Jahren 1941/1942 zwischen dem schon oben genannten Neurologen Foster Kennedy und dem Kinder-Psychiater Leo Kanner. Beide hielten im Mai 1941 (also kurz vor dem offiziellen Ende der Aktion T4 in Deutschland) einen Vortrag über das Für und Wider der Ermordung geistig Behinderter auf der 97. Jahresversammlung der American Psychiatric Association, der Dachorganisation der amerikanischen Psychiater. Ihre Beiträge wurden im Juli 1942 im American Journal of Psychiatry (der angesehensten psychiatrischen Fachzeitschrift und dem offiziellen Organ der American Psychiatric Association) abgedruckt, allerdings ergänzt mit einem anonymen Kommentar der Herausgeber. [Text Foster Kennedy – Text Leo Kanner – Kommentar der Herausgeber – „The 1942 ‘euthanasia’ debate in the American Journal of Psychiatry“ von Jay Joseph, 2005]
Zu diesem Zeitpunkt gab es in den USA bereits Reportagen über die systematische Ermordung von mehr als 100.000 Menschen durch die Nazis. Kanner bezog sich in seinem Beitrag sogar kurz auf diese Enthüllungen. Das allerdings hinderte Kennedy und die Verfasser des Kommentars nicht daran, offen für die Tötung von „schwachsinnigen“ Kindern einzutreten. Kennedy war weltweit anerkannt, Professor an der Cornell University und seit 1940 der Vorsitzende der „American Neurological Association“ und, wie bereits erwähnt, Ehrendoktor der Uni Heidelberg. Er war ein bekanntes Mitglied der Euthanasia Society in den USA und ein entschiedener Befürworter der Ermordung von Menschen mit geistigen Behinderungen. 1939, drei Jahre nach der Verleihung des Ehrendoktor-Titels durch das NS Regime, trat Kennedy aus der Society aus, weil diese seiner Meinung nach zu sehr auf freiwillige Sterilisierungen setzte. In seinem Beitrag von 1942 vertrat er eine ähnliche Argumentationslinie wie Binding/Hochte in ihrem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von 1920.
„Euthanasie“ sollte für solche Menschen gelten, „die eigentlich nie hätten geboren werden sollen – Fehler der Natur“. Sein Vorschlag war, „fehlerhafte Kinder“, die das Alter von fünf Jahren erreichten, von einem „medizinischen Ausschuss“ begutachten zu lassen, und wenn nach mehreren Monaten und mindestens drei Begutachtungen der Ausschuss zu der Schlussfolgerung käme, dass diese „fehlerhaften“ Kinder „keine Hoffnung auf eine Zukunft“ hätten, wäre es „eine barmherzige und gute Sache sie von diesen Defekten [defectives] zu erlösen … von der Agonie des Lebens“. Die Wörter, die Kennedy in seinem Beitrag verwendete, waren die Standardbegriffe der psychiatrischen Genetik und der NS-Literatur. Sein „Opponent“ Kanner sprach sich zwar gegen die „kaltblütige Ermordung tausender Menschen aus“ aber mehr aus strategischen, denn aus grundlegenden Überlegungen.
KZ-Hadamar nach Ankunft der US-Army: Verhör der Täter
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Für Kanner waren die Menschen mit einer geringeren Intelligenz notwendig zum Erhalt der Gesellschaft, da sie die Arbeiten verrichten konnten, die die höherwertigen Bürger_innen nicht verrichten wollten (wie z. B. Müll sammeln). Er stimmte aber mit Kennedy darin überein, dass es „Idioten und Schwachsinnige gibt, die in keiner Weise zu sozialer Nützlichkeit geführt werden könnten“. Hervorzuheben ist aber der Kommentar der Herausgeber_innen, der sich klar auf die Seite Kennedys stellt und die Tötung geistig Behinderter propagiert. Damit hat eine der weltweit angesehensten psychiatrischen Fachzeitschriften, im Jahre 1942 offen die Ermordung von geistig behinderten Menschen unterstützt.
Zu dem Zeitpunkt, an dem die wissenschaftliche Verwaltung der Bevölkerung zur Maxime der Politik wird, kommt es am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer entscheidenden Entwicklung in der psychiatrischen Theorie. Die folgenden Überlegungen schließen an die Arbeiten Foucaults aus dem Jahre 1974 an. Die Psychiatrie definiert das Verhalten des Individuums zum Gegenstand ihrer Theorie, wobei Verhalten verstanden wird als etwas Permanentes. In der Psychiatrie geht es nicht mehr darum, krankhafte Prozesse im Individuum auszumachen. Vielmehr sucht sie nach konstanten Merkmalen, die das Individuum von seiner Struktur her auszeichnen. Diese Stigmata seien nicht nur psychisch, sondern auch im Körper nachweisbar. Beispiele sind die Vermessungen des Schädels und aller Organe auf der Suche und für den Nachweis dieser Stigmata.
Dies sei der Nachweis eines angeborenen Zustands – Veränderungen des Körpers werden als physische und strukturelle Zeichen für etwas gedeutet, das permanent und unveränderlich ist. Die Psychiatrie konzentriert sich von nun an auf Aspekte der Fehlentwicklung, des Mangels oder der minderen Entwicklung verstanden als ein funktionelles Ungleichgewicht; d. h., weil sich übergeordnete Instanzen nicht entwickeln, können niedere Instanzen (oder Instinkte) ungehindert funktionieren. Die Kategorie der “Verblödeten”, “Idioten”, usw. wird daher wichtig für die Psychiatrie, weil ihr abweichendes Verhalten durch eine angeborene Fehlfunktion erklärt werden kann, die die normale Entwicklung unterbricht. Dies ermöglicht die Suche nach anormalem Verhalten, das nicht mehr als Ergebnis einer Erkrankung gesehen wird, sondern als Konsequenz einer angeborenen Fehlfunktion.
Zu dem Zeitpunkt, an dem die wissenschaftliche Verwaltung der Bevölkerung zur Maxime der Politik wird, kommt es am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer entscheidenden Entwicklung in der psychiatrischen Theorie. Die folgenden Überlegungen schließen an die Arbeiten Foucaults aus dem Jahre 1974 an. Die Psychiatrie definiert das Verhalten des Individuums zum Gegenstand ihrer Theorie, wobei Verhalten verstanden wird als etwas Permanentes. In der Psychiatrie geht es nicht mehr darum, krankhafte Prozesse im Individuum auszumachen. Vielmehr sucht sie nach konstanten Merkmalen, die das Individuum von seiner Struktur her auszeichnen. Diese Stigmata seien nicht nur psychisch, sondern auch im Körper nachweisbar. Beispiele sind die Vermessungen des Schädels und aller Organe auf der Suche und für den Nachweis dieser Stigmata.
Dies sei der Nachweis eines angeborenen Zustands – Veränderungen des Körpers werden als physische und strukturelle Zeichen für etwas gedeutet, das permanent und unveränderlich ist. Die Psychiatrie konzentriert sich von nun an auf Aspekte der Fehlentwicklung, des Mangels oder der minderen Entwicklung verstanden als ein funktionelles Ungleichgewicht; d. h., weil sich übergeordnete Instanzen nicht entwickeln, können niedere Instanzen (oder Instinkte) ungehindert funktionieren. Die Kategorie der “Verblödeten”, “Idioten”, usw. wird daher wichtig für die Psychiatrie, weil ihr abweichendes Verhalten durch eine angeborene Fehlfunktion erklärt werden kann, die die normale Entwicklung unterbricht. Dies ermöglicht die Suche nach anormalem Verhalten, das nicht mehr als Ergebnis einer Erkrankung gesehen wird, sondern als Konsequenz einer angeborenen Fehlfunktion.
KZ-Hadamar nach Ankunft der US-Army: Das Gift, mit dem gemordet wurde.
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Quelle: https://archive.org/details/gov.archives.arc.43452#
Damit verbunden ist auch, dass die Psychiatrie neue Bevölkerungsgruppen mit Anomalien problematisiert, wie z. B. die Agoraphobie (Krafft-Ebing), Klaustrophobie (Westphal 1870), Homosexualität oder Masochismus – alles Beschreibungen, die nicht Symptome einer Krankheit, sondern Syndrome einer stabilen Veranlagung zur Anomalie sind. Mit Jean Pierre Falret (1864) und seinem Konzept des Mangelzustands, das Psychiater bis hin zu Kraepelin nutzen, wird dieser Zustand zum Fundament des Anormalen und führt bis heute zu der Frage, welcher Körper solch einen Zustand hervorbringt. Die Antwort auf die Frage ist die Entdeckung der Erblichkeit bzw. der Körper der Familie und Vorfahren. Die Theorie der Vererbung etabliert, dass bestimmte Krankheiten bei den Nachkommen eine Erkrankung desselben Typs oder aber beliebig andere Krankheiten verursachen können. Vielmehr noch, Laster, wie starker Alkoholkonsum kann jedwede Form von abweichendem Verhalten provozieren, zum Beispiel Alkoholismus oder Erkrankungen wie Tuberkulose und geistige Krankheiten. Vererbung funktioniert als ein Phantasiekörper, der zur Ursache für alles Anormale wird, sei es körperlich, psychisch oder in Bezug auf das Verhalten.
Die Theorie der Degenerierung, die 1857 ausgearbeitet wird, entsteht genau zu dem Zeitpunkt der Epoche der neurologischen Modelle von Baillarger, Griesinger, Luys und Lucas, allesamt Arbeiten über die pathologische Vererbung. Die Degenerierung ist das zentrale theoretische Konstrukt in der Medikalisierung des Anormalen. In dem Moment, in dem die Psychiatrie möglich ist, abweichendes Verhalten direkt in Verbindung zu setzen mit einem Zustand, der gleichzeitig vererbbar und definitiv ist, erlangt die Psychiatrie die Macht, nicht mehr nach einer Heilung streben zu müssen. Vorher war die Unheilbarkeit etwas, was jenseits der Grenze einer Heilbarkeit des Wahnsinns lag. Aber ab dem Zeitpunkt, ab dem der Wahnsinn zum Zustand des Anormalen wird, der durch die Geschichte des Individuums und an dessen vermeintliche Vererbbarkeit gekoppelt ist, macht das Vorhaben der Heilung grundlegend keinen Sinn mehr. Damit verschwindet aber auch jeder therapeutische Ansatz – die Psychiatrie versucht nicht mehr vorrangig zu heilen. Sie kann nur noch eine Art Schutzfunktion für die Gesellschaft übernehmen.
Das heißt, Schutz vor den Gefahren, denen sich die Gesellschaft durch jene ausgesetzt sieht, die sich in diesem Zustand der Anomalie befinden. Damit übernimmt die Psychiatrie die Rolle der Wahrung der Ordnung, einer allgemeinen sozialen Verteidigung. Sie wird zu einer Wissenschaft der sozialen Verteidigung der Gesellschaft und des biologischen Schutzes der Art. Mit der Entwicklung der Psychiatrie zu einer Wissenschaft und Verwaltung der individuellen Anomalien erreicht die Psychiatrie den Gipfel ihrer Macht. Sie übernimmt die Kontrolle der Gesellschaft und wird zu der Instanz der Verteidigung der Gesellschaft gegen die Gefahren, die sie von innen her bedrohen. Es ist dies der Punkt (mit dem Begriff der Degenerierung und den Analysen über Vererbbarkeit), an dem sich die Psychiatrie einer Form des Rassismus anschließt oder genauer gesagt eine neue Form des Rassismus hervorbringt; eine Form des Rassismus, die sich stark abhebt von einem traditionellen, historischen „ethnischen Rassismus“.
Der Rassismus der Psychiatrie ist ein Rassismus gegen das Abnormale. Es ist ein Rassismus gegen die Individuen, die Träger von Stigmata oder irgendwelchen anderen Fehlern sind und diese wahllos an ihre Nachfahren weitergeben können; mit unabsehbaren Folgen. Dieser Rassismus ist darauf angelegt, Gefahren im Inneren einer Bevölkerung auszumachen, d. h. alle gefährlichen Individuen in einer gegebenen Gesellschaft auszufiltern. Dass die Psychiatrie in Deutschland so spontan und erfolgreich im Innern des Nazismus funktioniert hat, darf nicht als Überraschung angesehen werden. Der neue Rassismus, der Neo-Rassismus, der dem 20. Jahrhundert als Mittel zur inneren Verteidigung einer Gesellschaft gegen ihre Anormalen dient, ist in der Psychiatrie entstanden. Der Nazismus hat lediglich diesen neuen Rassismus auf den ethnischen, antisemitischen Rassismus aufgesetzt, der sich schon im 19. Jahrhundert verbreitet hatte. Diese neuen Formen des Rassismus die Europa und die USA am Ende des 19. Anfang 20. Jahrhunderts erfasst haben, müssen historisch in der Psychiatrie verortet werden. Wenn die internationale Psychiatrie sich ernsthaft mit den Morden der deutschen Psychiater auseinandersetzen wollte, müsste sie zunächst einmal anerkennen, dass die Psychiatrie ab dem 19. Jahrhundert im Wesentlichen als Mechanismus und Instanz der sozialen Verteidigung funktionierte. Der angeblich „Degenerierte“ ist ein Träger von Gefahr und der „Degenerierte“ ist in keinem Fall heilbar – das ist der gemeinsame Ursprung der modernen deutschen und internationalen Psychiatrie.
Die Theorie der Degenerierung, die 1857 ausgearbeitet wird, entsteht genau zu dem Zeitpunkt der Epoche der neurologischen Modelle von Baillarger, Griesinger, Luys und Lucas, allesamt Arbeiten über die pathologische Vererbung. Die Degenerierung ist das zentrale theoretische Konstrukt in der Medikalisierung des Anormalen. In dem Moment, in dem die Psychiatrie möglich ist, abweichendes Verhalten direkt in Verbindung zu setzen mit einem Zustand, der gleichzeitig vererbbar und definitiv ist, erlangt die Psychiatrie die Macht, nicht mehr nach einer Heilung streben zu müssen. Vorher war die Unheilbarkeit etwas, was jenseits der Grenze einer Heilbarkeit des Wahnsinns lag. Aber ab dem Zeitpunkt, ab dem der Wahnsinn zum Zustand des Anormalen wird, der durch die Geschichte des Individuums und an dessen vermeintliche Vererbbarkeit gekoppelt ist, macht das Vorhaben der Heilung grundlegend keinen Sinn mehr. Damit verschwindet aber auch jeder therapeutische Ansatz – die Psychiatrie versucht nicht mehr vorrangig zu heilen. Sie kann nur noch eine Art Schutzfunktion für die Gesellschaft übernehmen.
Das heißt, Schutz vor den Gefahren, denen sich die Gesellschaft durch jene ausgesetzt sieht, die sich in diesem Zustand der Anomalie befinden. Damit übernimmt die Psychiatrie die Rolle der Wahrung der Ordnung, einer allgemeinen sozialen Verteidigung. Sie wird zu einer Wissenschaft der sozialen Verteidigung der Gesellschaft und des biologischen Schutzes der Art. Mit der Entwicklung der Psychiatrie zu einer Wissenschaft und Verwaltung der individuellen Anomalien erreicht die Psychiatrie den Gipfel ihrer Macht. Sie übernimmt die Kontrolle der Gesellschaft und wird zu der Instanz der Verteidigung der Gesellschaft gegen die Gefahren, die sie von innen her bedrohen. Es ist dies der Punkt (mit dem Begriff der Degenerierung und den Analysen über Vererbbarkeit), an dem sich die Psychiatrie einer Form des Rassismus anschließt oder genauer gesagt eine neue Form des Rassismus hervorbringt; eine Form des Rassismus, die sich stark abhebt von einem traditionellen, historischen „ethnischen Rassismus“.
Der Rassismus der Psychiatrie ist ein Rassismus gegen das Abnormale. Es ist ein Rassismus gegen die Individuen, die Träger von Stigmata oder irgendwelchen anderen Fehlern sind und diese wahllos an ihre Nachfahren weitergeben können; mit unabsehbaren Folgen. Dieser Rassismus ist darauf angelegt, Gefahren im Inneren einer Bevölkerung auszumachen, d. h. alle gefährlichen Individuen in einer gegebenen Gesellschaft auszufiltern. Dass die Psychiatrie in Deutschland so spontan und erfolgreich im Innern des Nazismus funktioniert hat, darf nicht als Überraschung angesehen werden. Der neue Rassismus, der Neo-Rassismus, der dem 20. Jahrhundert als Mittel zur inneren Verteidigung einer Gesellschaft gegen ihre Anormalen dient, ist in der Psychiatrie entstanden. Der Nazismus hat lediglich diesen neuen Rassismus auf den ethnischen, antisemitischen Rassismus aufgesetzt, der sich schon im 19. Jahrhundert verbreitet hatte. Diese neuen Formen des Rassismus die Europa und die USA am Ende des 19. Anfang 20. Jahrhunderts erfasst haben, müssen historisch in der Psychiatrie verortet werden. Wenn die internationale Psychiatrie sich ernsthaft mit den Morden der deutschen Psychiater auseinandersetzen wollte, müsste sie zunächst einmal anerkennen, dass die Psychiatrie ab dem 19. Jahrhundert im Wesentlichen als Mechanismus und Instanz der sozialen Verteidigung funktionierte. Der angeblich „Degenerierte“ ist ein Träger von Gefahr und der „Degenerierte“ ist in keinem Fall heilbar – das ist der gemeinsame Ursprung der modernen deutschen und internationalen Psychiatrie.
Der Autor, Dr. Thomas Foth ist Assistant Professor an der School of Nursing der Universität Ottawa, Kanada und als Pflegehistoriker besonders interessiert an der Geschichte der psychiatrischen Pflege im internationalen Vergleich. Er hat ein Buch zur Beteiligung von Pflegenden in der Ermordung psychiatrischer Patient_innen in der Psychiatrie in Hamburg geschrieben und forscht zurzeit über den Einsatz von Schocktherapien und die Verquickung von Management und Pflege in der kanadischen Psychiatrie.
E-Mail: tfoth@uottawa.ca
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