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KOMMENTARE

zur
gutachterlichen
Stellungnahme

zur
Ratifikation der
U.N. Disability Convention vom 30.03.2007
und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke

am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung
nach dem PsychKG Berlin
von
Wolfgang
Kaleck
, Rechtsanwalt Berlin,
Sönke
Hilbrans
,

Rechtsanwalt Berlin,
Sebastian
Scharmer
, Rechtsanwalt Berlin


  1. Bericht
    in“Neues Deutschland“ vom 26.2.2008 auf Seite 16:
    Psychiatrie kritisiertGutachten moniert
    Zwangseinweisungen
    Das Berliner Psychiatriegesetz muss demnächst reformiert werden,
    weil es gegen eine schon unterschriebene, aber noch nicht umgesetzte
    UN-Konvention verstößt. Das zumindest ist das Fazit eines
    Gutachte…
  2.  

  3. Bericht
    in „Neues Deutschland“ vom 27.6.2008:
    „Die Probleme bewältigen – nicht wegschließen“
    von Prof. Dr. Eckhard Rohrmann

Erklärung zur Veröffentlichung des Gutachtens
der Rechtsanwälte Kaleck, Hilbrans und Scharmer am 25.2.2008

im Berliner Abgeordnetenhaus

 

von René Talbot
Mitglied das Vorstands der
Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V.


von links nach rechts:
Dr. D. Behrendt, Prof. Dr. W.-D. Narr, R. Talbot

Vor 10 Jahren tagte das Foucault
Tribunal
, vor 7 Jahren das Russell
Tribunal
, beide in Berlin und beide Tribunale erwähnten
in ihren Urteilen die Forderung:
Als ersten Schritt fordern wir die Abschaffung
der „Psychisch Kranken“ Gesetze, so dass die Psychiatrie gegenüber
der Gesellschaft verantwortlich wird.

Nun zeichnet sich eine Erfüllung dieser Forderung dadurch
ab, dass die deutsche Regierung die von der U.N. Vollversammlung
am 13.12.2006 verabschiedete U.N. Behinderten-Konvention am
30.3.2007 paraphiert hat.
Unsere Vermutung, dass mit der Ratifizierung der Konvention
in Deutschland gleichzeitig implizit die gesamte Zwangspsychiatrie
zu Fall gebracht werden kann, hat uns veranlasst, dies beispielhaft
am Berliner PsychKG durch ein Rechtsgutachten untersuchen
zu lassen. Dazu haben wir die Kanzlei des renommierten Fachanwalts
in Menschenrechtsfragen und Vorsitzenden des republikanischen
Anwältinnen- und Anwältevereins Wolfgang Kaleck
beauftragt.

Dieses heute veröffentlichte Gutachten wird inzwischen durch
namhafte Kommentatoren wie Prof. Wolf-Dieter Narr und Prof.
Eckard Rohrmann unterstützt.

Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien
haben durch die Paraphierung dokumentiert, dass auch sie die
Ratifizierung der Konvention wollen.

Da in der Konvention zu unserem Bedauern leider nicht explizit
die Abschaffung der Zwangspsychiatrie festgeschrieben wurde,
wird nun durch das Gutachten die implizite Logik der Konvention
aufgezeigt, die zum selben Ergebnis führt: der Gesetzgeber
kann nur gleichzeitig mit der Ratifizierung die drei gesetzlichen
Säulen der Zwangspsychiatrie beseitigen. Obwohl das Gutachten
nur ganz spezifisch die Vereinbarkeit der Konvention mit dem
Berliner PsychKG untersucht, ist es auf alle anderen PsychKG’s
bzw. Unterbringungsgesetze der Länder übertragbar.
Der zweiten Säule der Zwangspsychiatrie, der Betreuung
genannten Entmündigung gegen den Willen der Betroffenen,
wird explizit durch Artikel 12 widersprochen. Außerdem
wird im Hinblick auf die U.N. Behinderten-Konvention das herrschende
Recht durch die Abschaffung des § 63 Strafgesetzbuch
verändert werden müssen, wie die Dissertation
von Annelie Prapolinat
nachweist, die durch das Gutachten
von Prof. Wolf-Dieter Narr
im Aufrag des Komitees
für Grundrechte und Demokratie
vorbehaltlos unterstützt
wird, Zitat: Hat man A. Prapolinats Arbeit gelesen und studiert erneut § 63 StGB,
dann zerfällt dieser wie schimmlige Pilze rasch und ohne
Überbleibsel.

Obwohl ich mit dem Ergebnis des Gutachtens von Kaleck,
Hilbrans und Scharmer außerordentlich zufrieden bin, möchte
ich auf die Punkte hinweisen, in denen das Gutachten von der
Meinung der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener
(die-BPE) wesentlich abweicht:

  • wie
    in der Fußnote 54 erwähnt, bestreitet die-BPE grundsätzlich
    die Existenz psychischer Krankheit, sondern hält sie für
    ein Konstrukt zur Mystifikation ärztlicher Gewaltanwendung.
    Deswegen müßte in dem Gutachten anstatt von „sogenannten
    Psychisch Kranken“ von „angeblich Psychisch Kranken“
    die Rede sein.
  • die-BPE
    sieht sehr wohl in der psychiatrischen Zwangsbehandlung
    die Kriterien von Folter erfüllt, wie sie in der U.N. Anti-Folterkonvention
    vom 10.12.1984 benannt sind und vertritt gegenüber der Feststellung
    in dem Gutachten auf Seite 27 zu Art. 15 der U.N. Behinderten-Konvention
    eine andere Meinung.

Ich freue mich sehr, dass Dr.
Dirk Behrendt
und die Grüne Fraktion des Abgeordnetenhaus
gemeinsam mit uns dieses Gutachten vorstellen und damit ihre
Bereitschaft zeigen, die impliziten Folgen der U.N. Behinderten-Konvention
zu diskutieren. Denn eines ist klar, mit der Veröffentlichung
dieses Gutachtens verbinden wir die Forderung an die Gesetzgeber
in den Ländern und auf Bundesebene, die Zwangspsychiatrie
umgehend zu beseitigen, so dass die U.N. Behinderten-Konvention
ratifiziert werden kann.

Wir würden uns freuen, wenn das Berliner Abgeordnetenhaus
als erstes kurzfristig und ersatzlos alle Zwangsteile aus
dem Berliner PsychKG streicht.

Kommentar
von Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften, Otto-Suhr-Institut
für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Gutachterliche
Stellungnahme
im
Auftrag des Komitee für Grundrechte und Demokratie

Berlin,
den 15.2.2008

Gegenstände
des Gutachtens:

 

Die
menschenrechtlichen Konsequenzen der UN Disability Convention
vom 30.3.2007

Hilfsweise
hinzugezogen:

a)
die Gutachterliche Stellungnahme der Rechtsanwälte Wolfgang
Kaleck, Söhnke Hilbrans, Sebastian Scharmer, Berlin zur Convention
und ihren psychiatrierechtlichen Auswirkungen

b)
die nur im Internet zeichengedruckte Dissertation am Fachbereich
Rechtswissenschaften der Universität Hamburg von Annelie
Prapolinat aus dem Jahre 2004 zum Thema: „Subjektive
Anforderungen an eine ‚rechtswidrige Tat‘ bei § 63 StGB“

 

Vorrede

Das
Gutachten benutzt primär die Menschenrechte als Urteilsbasis
und Maßstab in einem. Da die Menschenrechte vor allem
in ihrer ersten internationalen Verkündigung am 10.12.1948
durch die UN und seither von jedem neuen Mitglied von allen
Staaten auch als ihre Basis und ihr Maßstab anerkannt
worden sind, müssten sie durchgehend das Verfassungsrecht
der Staaten ihrerseits konstituieren und prinzipiell alle sonstigen
Rechtskodifizierungen und Einzelgesetze durchwirken. Auch wenn
die Menschenrechte als Urteilsbasis und Maßstab der Urteilsbildung
Mitgliedsstaaten der UN normativ binden, changieren ihre Interpretation
und Anwendung erheblich. Das gilt für die Disability Convention
selbst. Darum wird dem Begriff der Menschenrechte, wie er im
Kontext der UN und ihrer Verlautbarungen der Gründung,
den Stellungnahmen und der Praxis des Komitees für Grundrechte
und Demokratie zugrundeliegt, an erster Stelle pointiert (I.).
Dem Relief der Menschenrechte folgt die knappe, vor allem der
Frage möglichen Zwangs gewidmete Erörterung der Behinderten-Konvention
der UN (II.). In diesem Zusammenhang wird auf das Rechtsgutachten
der Berliner Anwälte vom Februar dieses Jahres und auf
die Dissertation von Frau Dr. jur Annelie Prapolinat
Bezug genommen. In einem kurzen III. Abschnitt werden einige
‚lose Enden‘ aufgenommen, die an die Grenzen menschenrechtlicher
Begriffsklärung und der Bestimmungen der Disability-Convention
führen. Es werden Aufgaben genannt und Wege angezeigt,
die anzugehen und zu betreten mittelfristig dringlich anstehen.

I.

Zum Begriff der
Menschenrechte

 

1.    

Vor- oder überstaatliche Normen

Menschenrechte
sind keine staatlich gesatzten Rechte. Wie immer die Gesetzgebungung
in den staatlichen Verfassungen – geschrieben/ungeschrieben
– geregelt ist: Menschenrechte stehen nicht zur Disposition
des Gesetzgebers. In den ersten Erklärungen der Menschenrechte
gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Virginia Bill of Rights, Französische
Revolution) wurden sie darum naturrechlich begründet: Als
mit der Geburt jedes Menschen als Mensch gegebene „Rechte“.
Bei diesen nicht staatlich gesatzten, also nicht staatseigenen
und nicht staatlich zur Disposition stehenden Rechten handelt
es sich um Grundbedürfnisse des Menschen. Sie müssen
jeweils im historisch möglichen Ausmaß zufrieden
gestellt werden. Damit Menschen sich ihren Möglichkeiten
als Menschen gemäß entwickeln können. Mit anderen
Worten: die Menschenrechte als essentielle Bedürfnisse
jedes Menschen sind mit der Geburt, also „von Natur“
gegeben. Ob und wie sie sich jedoch entwickeln können,
dafür geben die historisch wandelnden gesellschaftlichen
Umstände den Ausschlag. Darum ist es gesellschaftlich und
konsequent menschlich möglich, dass die Menschenrechte
einzelner oder vieler Menschen verfehlt werden. Menschen können
unmenschlich behandelt werden. Menschen können andere Menschen
unmenschlich behandeln. Dieses zentrale soziohistorische Merkmal
der Menschenrechte, dass sie vom sozialen Kontext abhängig
sind, macht Menschenrechte historisch fundamental prekär.

 

 

2.    

Konstitutive und regulative Prinzipien

Um
diese Ambivalenz der Menschenrechte als für Menschen schlechterdings
zentral und ebenso durchgehend gefährdet und verfehlbar
zu begreifen und ihr menschenrechtsgemäß möglichst
gerecht zu werden, ist eine auf Kant zurückgehende Unterscheidung
nützlich. Sie kennt bis in die Antiken der diversen Erdteile
zurückgehende Vorformen. Menschenrechte sind als konstitutive
Normen zu begreifen. An ihnen müssen sich die Menschen
orientieren, sie müssen die Menschen zu verwirklichen suchen,
wenn sie ihrer (angeborenen) Bestimmung gerecht werden wollen.
„Geprägte Formen, die lebend sich entwickeln“
(Goethe). Damit jedoch aus die Menschen zu Menschen machenden
Normen, die sie also konstituieren, Praktiken, also handelnde
Menschen werden, müssen sie entsprechend sozial verwirklicht
werden. Sie sind in regulative Normen zu über- und umzusetzen.
Auf dass sie sozial der Fall werden.

 


3.    

Individuelle Rechte, soziale Formen und
Folgen

Menschenrechte
sind nur, wenn jeder Mensch sich ihrer gleicher Weise erfreuen
kann. Sie sind nicht, wenn Orwells Satz vom Beginn seiner „Farm
der Tiere“ zutrifft. „Alle Menschen sind gleich. Manche
sind gleicher als die anderen.“ Das besagt: Im Rahmen menschenrechtlicher
Normen, als konstitutiven Prinzpien, die Menschen zu Menschen
werden lassen, sind keine Unterscheidungen, keine sozialen Schließungen
zulässig. Die allen lebenslang gewährten Chancen,
individuellen Werdens, sich Menschenrechte zueigen zu machen,
sind indes nur gegeben, wenn die materiellen, soziopolitisch
gestalteten Umstände die Menschenrechte aktualisieren lassen,
in die Menschen geboren werden und in denen sie zu sich kommen.
Darum sind Menschenrechte nicht als ‚bloße‘ Normen nackt,
also abstrakt zu artikulieren. Wer von Menschenrechten spricht
und die ihnen nötigen, in ihnen steckenden sozialen Bedingungen
und Formen verschweigt, redet vergebens von Menschenrechten.

 


4.    

Individuelle Besonderheiten

Das,
was einen Menschen als Individuum auszeichnet, ist letztlich
nie auf einen Begriff zu bringen. „Kennst du schon das große
Wort“, schrieb Goethe an Lavater, „individuum est ineffabile.“
Das heißt: was ein Individuum letztlich ausmacht, lässt sich
nicht in kurze, eindeutige Worte fassen. Darum orientiert der
Begriff „Identität“, ernst genommen, falsch. Dann besagte er
Eindeutigkeit bis auf den Punkt hin. Aus dieser Einsicht folgt:
Menschenrechte sind „Rechte“, die allen Wesen universell gelten,
die menschliche Merkmale besitzen. Da gibt es keine Ausnahme.
Es sei denn, man hebele Begriff und Praxis der Menschenrechte
aus, um Menschengruppen in systematischer Diskriminierung auszusondern.

Die
Qualität universeller Geltung bezeichnet indes nur eine
Qualität des menschenrechtlichen Kerngehäuses. Sie
wird zu einer gültigen erst, wenn sie als die universelle
Geltung des Besonderen, der Fülle der individuell besonderen
Menschen in ihren wechselnden Auftritten (Habitus) verstanden
und verwirklicht wird. So definitionsstark Menschenrechte staatlich
gesatzte Rechte und Praxen durchdringen müssten – so diese
Staaten Menschenrechte in Anspruch nehmen -, so sehr unterscheiden
sie sich von staatlichen Gesetzen. Deren innerstaatlicher Allgemeinheitsanspruch
wird gegen Menschen in den Grenzen des Staates abweichendenfalls
mit Zwang durchgesetzt. Dagegen gilt: Besondere Befindlichkeiten
und Umgangsformen von Menschen, von Normen und Normalitäten
abweichende Fälle sind menschenrechtlich nicht zu verurteilen.
Sie dürfen menschenrechtlich begründet, nicht staatlich
ersatzweise sanktioniert werden. Grenzen individueller (Willkür-)Freiheiten
sind erst dort zu ziehen, wo das Menschenrecht schlechthin,
besonders, das heißt eigensinnig, habituell eigenartig
zu sein, von anderen verneint und verhindert wird. Rosa Luxemburgs
großes Wort gilt durchgehend: "Freiheit ist immer
auch die Freiheit der anders Denkenden." Hinzuzufügen
ist: Freiheit ist immer auch die Freiheit der anderes Lebenden..
Auch wenn sich die Freiheiten von einzelnen Personen und Kollektiven
negativ verheddern, Blockaden und Gewalt drohen, ist das Mittel
des Zwangs (siehe weiter unten) menschenrechtlich nicht zu legitimieren.

 


5.    

Würde, Autonomie, Gleichheit und Unveräußerlichkeit
der Rechte

Diese
und andere Merkmale hebt die Konvention der UN „über die Rechte
behinderter Menschen“ hervor. Solche normativen Richtgrößen
sind wichtig. Allerdings kommt es bei allen Normen auf wenigstens
drei Elemente an: Wie werden sie begründet. Welche ‚Kennungen‘
oder Kriterien zeichnen sie zuspitzend aus. Wie werden sie verwirklicht?
Woran ist zu erkennen, ob und wie sie eingehalten werden? Wie
werden sie, in den Normen selbst angelegt, mit Über- und Umsetzungenformen
versehen? An den beiden ersten in der Überschrift konventionsgemäß
hervorgehobenen Normen soll der nötige Differenzierungsprozeß
knapp illustriert werden.

 

a)    

Würde

a1)
Mit ihr hebt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
durch die UN vom 10. Dezember 1948 an. Sie ist ein Kernausdruck
von Art.1

Präambel:

„Da
die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie
innenwohnende W ü r d e (gsperrt vom Verf.) und ihrer gleichen
und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit,
der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet ….“

„Art.
1 Alle Menschen sind frei und gleich an W ü r d e (gesperrt
Verf.) und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen
begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit
begegnen.“

Publiziert
wenig später lautet der erste Satz des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland nach der Präambel:

„Art.1
Die W ü r d edes
Menschen (gesperrt Verf.) ist unantastbar. Sie zu achten und
zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Nicht
zufällig steht Würde beide Male im Zentrum. Der vom deutschen
Nationalsozialismus inszenierte II. Weltkrieg und das Grauen
seiner „Endlösung“(en) überschattete und motivierte die Mitglieder
der UN, die 1947/48 an der Formulierung der Menschenrechte in
San Francisco beteiligt waren, ebenso wie die Mitglieder des
Parlamentarischen Rats, die in Bonn das Grundgesetz und seinen
ersten „unmittelbar geltenden“ Grund- und Menschenrechtsabschnitt
(Art. 1 bis Art.19 GG) formulierten. Wo wäre die Würde des Menschen
schlimmer und selbst nach sechzig Jahren unvorstellbarem Umfang
„angetastet“, verletzt und zusammen mit den Menschen menschenverachtend
vernichtet worden, als in den Arbeitslagern, den vielen Stufen
der Konzentrationslager und schließlich den Vernichtungs-und
Todeslagen bis hin zu den Todesmärschen tief in den April 1945
hinein. Dazu kamen Aktionen des nationalsozialistischen Deutschlands
in der sonst privilegierten „arischen“ Bevölkerung individuell
und in der Masse kollektiv vernichtetes „unwertes Leben“; der
Mord von Menschen mit Besonderheiten jenseits akzeptierter „Normalität“,
nicht zuletzt sogenannt psychisch oder geistig Kranken. Von
den soziale Räume und ihre Bevölkerungen übergreifenden rassistischen
In- und Exklusionen, einer diskriminatorischen Totalität voll
der „Selektionen“ insgesamt soll hier nicht eigens gehandelt
werden.

 

 

a2)
Würde, Vernunft, Willensfreiheit, Sittlichkeit und
viele verwandten Ausdrücke kompakter menschlicher Werte
bilden eine fast goldene Normenkette, die nicht zufällig
deutsch idealistisch von Kant, von Schiller, von Wilhelm von
Humboldt und vielen anderen sprachwundersam geschmiedet worden
ist. Ein Blick in einschlägige Wörterbücher (im
Deutschen s. besonders „Würde“, in: Grimm Deutsches
Wörterbuch, München 1986 Bd.30, Spalte 2060-2088 und
Panajotis Kondylis; Würde, in: Geschichtliche Grundbegriffe,
Studienausgabe, Stuttgart 2004, Bd. VII, S. 637-677) und wohl
überlegte juristische Kommentare erhellt den wohlgefälligen,
seltsam auratischen Leerformelcharakter dieses hochgradig unbestimmten
(Nicht-)Rechtsbegriffs (vgl. beispielhaft nach wie vor trefflich
Erhard Denninger; Staatsrecht 1, Reinbek bei Hamburg 1973, S.11
ff. mit trefflichen Beispielen). Kondylis schließt seinen
Beitrag mit folgender Feststellung:

„Dennoch
hat das allgemeine Bekenntnis zur Menschenwürde – Kondylis hat
zuvor auf die grundgesetzliche Verankerung und die in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte hingewiesen, d. Verf. – kaum praktische
Verbindlichkeit erlangen können. … Infolge dieses vielfachen
und widersprüchlichen philosophischen und politischen Sprachgebrauchs
ist ‚Menschenwürde‘ zu einer Leerformel neben anderen geworden.“

In
Auseinandersetzung mit der seinerzeitigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts
weist Denninger mit seither nicht vermindertem, sondern nach
dem 11.9. insbesondere noch verstärkten Recht darauf hin,
wie leicht emphatische, aber nicht zureichend ausgewiesene Wertformeln
zu Leerformeln werden. Aufgrund ihrerseits pauschaler Gegen(wert)formeln
können sie auf der gesetzgeberischen, der exekutiven und
der richterlichen Waage als zu leicht befunden werden. E. Denningers
Schlussfolgerung deckt sich mit der von historisch begründeten
von Kondylis.

„Die
Institutionen des Grundgesetzes, von der Rechtsschutzgarantie
des Art. 19 Abs. 4 bis zum Normenkontrollverfahren, sind durchweg
von der Erfahrung und der Möglichkeit konzipiert, dass alle
staatlichen Machtträger, auch der Gesetzgeber, der Gefahr des
Irrtums, der ideologischen Pervertierung und des vorsätzlichen
Machtmissbrauchs unterliegen. Der Rechtsstaat erweist sich als
ein solcher im Unterschied zum Unrechtsstaat geradezu in der
‚Annahme der prinzipiellen Möglichkeit des staatlichen Unrechts‘
(P. Schneider …). Gerade deshalb sollte aber der Gesetzgeber,
mag man ihm auch ein begrenztes Recht auf Irrtum zugestehen,
letztlich nicht an seinen Motiven und Absichten gemessen werden,
sondern an den tatsächlich intersubjektiv feststellbaren Auswirkungen
seiner Willensbekundungen. Kritik verdient auch die nicht näher
ausgeführte ‚Begründung‘ des Gerichts – des BverG in seiner
Abhörentscheidung 1970, d. Verf.-, der Bestandsschutz des Staates
und der demokratischen Ordnung usf., kurz die Staatsräson rechtfertige
den Ausschluss des Rechtsweges und verletze deshalb ‚jedenfalls‘
die Menschenwürde nicht. Ein unheimlicher Gedanke, dessen mögliche
begrifflich nicht ausgeschlossene Übertragungen auf andere Situationen
einen erschauern lassen. Hier wären doch gerade erst einmal
die Bedingungen des ‚Menschenwürdigen‘ und die Belange der Staatssicherheit
in sorgfältiger Einzeluntersuchung zueinander ins Verhältnis
zu setzen gewesen. Handeln nach Staatsräson, auch und gerade nicht ‚willkürliches‘,
sondern legales, ‚gesetzestreues’Handeln ist nicht nur kein
unwiderlegliches Indiz für Übereinstimmung mit dem Menschenwürde-Satz,
sondern angesichts moderner Zugriffs- und Verfügungsintensität
des Leviathans eher ein Indiz für das Gegenteil. Warnend heben
drei Mitglieder des Senats in ihrer ‚dissenting vote‘ (…) hervor, die Staatsräson
sei kein unbedingt vorrangiger Wert. Die ’streitbare Demokratie‘, als deren Ausdruck man die Grundrechtsbeschränkung
nach Art.10 Abs.2 S.2 verstehen kann, kehre sich gegen sich
selbst, wenn der Gesetzgeber die ihm gezogenen Schranken verkenne.“
Danach folgert Denninger, wie schon angekündigt, eine Folgerung,
die weiter differenziert und belegt wird:

„Die
hier kritisierte Entscheidung des Bundesverfasssungsgerichts
zu Art. 10 Abs.2 S.2 GG zeigt in exemplarischer Weise zweierlei:

1.      

‚Leitbilder‘ wie die Unantastbarkeit der
Menschenwürde oder die zwar ‚gemeinschaftsverbundene‘,
aber dennoch ‚frei‘, ‚eigenverantwortlich‘ und ‚autonom‘ ‚entfaltende
Persönlichkeit‘, sind abgesehen von dem äußeren
Grenzbereich brutaler physischer Vergewaltigung und Existenzvernichtung
(Folter, Gaskammer), keine Leitbilder im Sinne zuverlässiger,
eindeutiger Handlungsanleitung. ….“

 

 

a3)
Nichts gegen eine goldene Normenkette. Die Über- und Umsetzung
zählen indes. Es zählt die Antwort auf die Frage, ob sich Über-
und Umsetzungsregeln über spezifische Situationen hinaus verallgemeinern
lassen. In jedem Fall gilt es die heute erkenntnistheoretisch
nicht mehr haltbare naturrechtliche Begründung im Sinne des
historisch-materiellen Kontextes stärker zu vertäuen. Die naturrechtliche
Begründung bis hin zur UN-Erklärung von 1948, aber auch zur
Disability Convention von 2007 neigt dazu, die Gegebenheit dessen,
was immer erneut erreicht, ja erkämpft werden muss, qua Naturgegebenheit
vorauszusetzen. Würde ist angeboren. Wäre es doch unverlierbar
so! Was sagten die vielem Hungers sterbenden oder ob der sozialen
Bedingungen verelendeten Kinder! Die naturrechtliche Begründung
verstärkt außerdem die Neigung, ein materiell zu fundierendes
Menschenrecht, das darum Streit verursacht, zu vergeistigen
und zu allererst zu einer Sache des „kostenlosen“ Bewusstseins
zu machen. Das Bewusstsein der eigenen Würde. Dieser Gefahr
droht beispielsweise Heiner Bielefeldt zu erliegen. (Vgl. ders.:
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention, Essay
No.6, Dez. 2006, hrsg. von Deutsches Institut für Menschenrechte,
Berlin). Die allgemeine Wegerichtung weist stattdessen Friedrich
Schillers Abhandlung „Über das Erhabene“. Ernst Bloch erkennt
darin einen „Perspektivplan“ und zitiert Schiller wie folgt.
Der Plan könne trotz „alter Sprache“ „von sich hören lassen.“

„Der
Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft
selbst ist nur die ewige Regel desselben. Eben deswegen ist
des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn
Gewalt hebt ihn auf. Was sie uns antut, macht uns nichts Geringeres
als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft
seine Menschheit hinweg“ (s. Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche
Würde, Frankfurt/M. 1961, S.14; s. Schiller: Vom Erhabenen,
in: ders.: Sämtliche Werke, Fünfter Band, hrsg. Gerhard Fricke
und Herbert G. Göpfert, München 1980 6. Aufl., S.489-512; siehe
auch ebda: Über Anmut und Würde, S.433-488).

 

 


b)   

Autonomie

b1)
Dieser Begriff ist sehr viel klarer als der der „Würde“. Oder
anders gesagt, erst durch ihn und seine Praktizierbarkeit erhält
„Würde“ Füsse und Hände. Auch dieser Begriff bleibt indes in
mehrfacher Hinsicht vage. Er wird nicht nur von der Disability
Convention, sondern dort, wo er gebraucht wird, erneut von Heiner
Bielefeldt, wie selbstvertständlich vorausgesetzt. Im Deutsch-Griechischen
Wörterbuch von Friedrich Berger (Göttingen 1868) kommt er im
Sinne einer signifikanten Lücke nicht vor. Im fast gleichzeitigen
Griechisch-deutschen Wörterbuch von Karl Jakobitz und Ernst
Eduard Seiler (Leipzig 1862) sind immerhin mehrere Eintragungen
zu finden:

autonomeomai,
ein autonomos sein, meint „nach eigenen Gesetzen leben, sich
selbst regieren.“ Autonomos ist entsprechend ein Mensch, der
nach eigenen Gesetzen lebt, kurz „unabhängig“ ist. Folgerichtig
bedeutet Autonomia „politische Unabhängigkeit“.

Ich
versage mir die Realenzyklopädie des Klassischen Altertums (RE)
in ihrer alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Auflage anzuführen,
ebenso ihre vollständige Neubearbeitung, die erst in diesen
Jahren abgeschlossen worden ist. Auch wenn einem die angebenen
Bedeutungen gefallen, bleiben sie kontextlos abstrakt. Werden
sie gar erneut naturrechtlich vor die Klammer aller soziopolischen
Bestimmungen gestellt, als seien sie selbstverständliche Mitbringsel
jeder Geburt, dann arbeiten sie der wohlgefälligen, juristisch
strafrechtlich folgenreichen Täuschung zu, als seien Menschen
‚an und für sich‘ autonom. Wie immer sie sozialisiert, sprich
vergesellschaftet, in welchen Situationen sie sich befinden
mögen. Gäbe man das Ziel jeder menschlichen Entwicklung an,
sich selbst bestimmen zu können, dann ließe sich daraus eine
immer noch zu abgehobene, aber harsche Kritik aller sozialen
Heteronomien herleiten, denen Menschen unterworfen sind. Insoweit
steckt, richtig verwandt, im Begriff der Autonomie eine kritische
Hebelkraft.

 

b2)
Wie dies in allen neueren Menschenrechtsverständnissen der Fall
ist, den Grundrechten, der UN-Menschenrechtserklärung und ihrem
späten Mitbringsel der Disability Convention, die individuellen
Menschenrechte werden immer zugleich als soziale verstanden.
Sprich: nicht die Robinsonade wird als Transparent benutzt,
um Menschenrechte und ihre nötigen Bedingungen herauszuarbeiten.
Das Individuum in „seiner Rolle als Mitmensch“, sprich inmitten
sozialer Gegebenheiten und Umgangsmuster wird normativ und praktisch
als das Bezugssubjekt erkannt. Das Individuelle ist immer zugleich
ein besonders gewordener sozialer ‚Verflechtungszusammenhang‘.
Das aber bedeutet: Selbstbestimmung ist primär als Mitbestimmung
im weiten Sinne des Worts zu deklinieren. Die weitere Folge
dieser sozialen Verknüpfung besteht darin, alle am Werden, Bewusstsein,
Sein und Handeln des Menschen irgend beteiligten Institutionen
darauf hin zu durchforsten, ob, auf welche Weise, mit welchen
Vorkehrungen und inwieweit sie dazu einladen, in jedem Fall
gewährleisten, dass die Menschen, die mit, durch und von ihnen
leben, aktive Teilnehmende des Geschehens sind. In dieser Hinsicht
ist nicht allein das Grundrecht sehr verkürzt und unzureichend
normiert worden. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht einmal
im Hinblick auf ihre eigenen Grundrechte als personale und kollektive
pouvoir active gefasst. Das geschieht gerade in den zentralen
Grundrechten nicht. Was wäre bzw. ist jedoch „Würde“ eine angeblich
„unantastbare“ personale Gegebenheit „der Menschennatur“, wenn
die einzelnen Menschen nicht dabei mitwirken können, wie ihre
„Würde“ soziales Ereignis wird, wie die ihr genehmen Umstände
eingehalten werden oder nicht? Ist „Würde“ eine Art passive
Auszeichnung des „Menschenstandes“ in all seinen Individuen,
wie immer mit ihnen verfahren wird? Ist es denn möglich, dass
die Bundesrepublik Deutschland und ihr grundrechtlich fundierter
Verfassungsstaat rundum behaupten können, die Ecksteinnorm:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ gälte verfassungswirklichrundum,
ohne dass alle Menschen je einzeln – nicht nur qua pauschaler
Vierjahreswahl als Scheinsubjekt „Volk“ gebündelt -, dort wo
sie leben, arbeiten, sich aufhalten oder aufhalten gemacht werden,
also psychiatrischen Anstalten, Justizvollzugsanstalten, Lagern
u.ä.m. darüber wenigstens mitbefinden, was dortselbst mit ihrer
„unantastbaren“ „Würde“ geschieht?

Wie
steht es mit dem Grundrecht, das in Art.2 GG an zweiter Stelle
steht? Hier handelt es sich um das Grundrecht auf physischr,
seelische und geistige Integrität, deutsch mit dem schönen
Ausdruck der Unversehrtheit bezeichnet. Wie kann auch die beste
Institution, wie können deren herausragendste Vertreterinnen
und Vertreter ohne primäre Dauermitbestimmung des je besonderen
Individuums darüber zu befinden, ob deren oder dessen Integrität
bewahrt, verletzt, aufgehoben oder wieder hergestellt wird?
Ein Check-up der medizinischen „check-up“-Institutionen sorgfältig
und genau wäre beispielsweise der erste Schritt auf dem
dringend erforderlichen Weg zur Emanzipation der Patienten zu
Bürgerinnen und Bürgern, denen ihre Gesundheit wahrhaft
am Herzen liegt.

Die
Lücke zureichender Selbst- und Mitbestimmung hebt im Grundgesetz
nicht erst im kraft- und saftlosen Art.20 Abs. 2 GG an. In dessem
ersten Satz wird pauschal behauptet: „Alle Gewalt geht vom Volke
aus.“ Das findet statt, was heute modisch und englisch „Empowernment“
genannt wird (darum muss diese Bezeichnung noch weniger ausgepackt
werden, welche einzelne und Bevölkerung insgesamt ermächtigende
Mittel sie hier und heute anwendbar enthalte). Im darauf folgenden
Satz wird dieses legitimatorisch brennende Reisigbündel „Volk“,
richtiger und plural die Bevölkerung, gerade machtgekrönt entmächtigt
ermächtigt. Sie wird rundum vermittelt aller Macht enteignet.
„Sie- „alle Gewalt“ nämlich, d. Verf. -wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und
durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt
und der Rechtsprechtung ausgeübt.“ Von der schon grundrechtlich
verfehlten Einheit „Volk“, weil die Individuen in ihm untergehen,
ist darum konsequent bis zum letzten Artikel der Verfassung
nicht mehr die Rede. Es ist nirgendwo erkenntlich, dass vom
Grundgesetzgeber oder später darauf geachtet worden wäre, alles
zu tun, um die Selbst- als Mitbestimmung durch jede Bürgerin
und jeden Bürger so ex- und intensiv zu gestalten wie dies menschen-
und in menschlich gemachten Institutionen und Prozeduren möglich
wäre.

Die
durchgehende Lücke des Grundgesetzes gilt, nimmt man die entsprechenden
Änderungen vor (mutatis mutandis) gleichfalls für die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte und deren jüngsten Spross: die
Disability Convention.

 

 

b3)
Wer von Autonomie spricht und sei es sozial konsequent vor allem
in der Form der Mitbestimmung und von den sozialen Bedingungen
der Selbst- und Mitbestimmung schweigt, kann sein eigenes Darüberreden
nicht ernst meinen. Erneut leitet die offen oder verdeckte naturrechtliche
Begründung in die Irre, so sympathisch diese von der Bewegung
gegen die Sklaverei, dem deutschen Bauernkrieg bis zur freilich
inkonsequenten Virginia Bill of Rights erscheinen mag. „Als
Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann“ – lautet
die gültige, dauernd neu zu übersetzende Parole des Bauernkriegs
1524/5. Als sei Autonomie menschengeboren. Als bedürfte sie
nicht dauernd neu zu überprüfender Bedingungen. Als fiele sie
jedem Individuum „natürlich“ in den Schoß und müsse nicht im
Schweiß treibender Anstrengung fort und fort erworben werden.
Das gälte der physischen Geh- und Lauffähigkeit vergleichbar.
Diese muss täglich praktiziert werden, soll nicht rasche Atrophie
mit mittelfristig tödlichen Folgen eintreten. Die Disability
Convention zeichnet sich dadurch aus, dass sie angefangen von
der „Bewusstseinsbildung“ (Art.8), über die Beseitigung von
Barrieren (Art.9) bis zu den Zugangsbedingungen und Sicherungen
(vgl. die folgenden Artikel) eine Fülle von Hinweisen und Postulaten
enthält. Sie gelten den Voraussetzungen dafür, dass Menschen,
die in ihrem Bewegungsraum in irgendeiner Weise jenseits der
Mehrheiten eingeschränkt sind oder anders sich verhalten, beispielsweise
in der Zeichensprache kommunizieren, instandgesetzt werden,
selbstbewusst, selbst- und mitbestimmend aufzutreten. Auch diese,
alle seitherigen Regelungen übertreffenden differenzierten Bestimmungen
setzen jedoch, einer internationalen Convention gemäß, auf den
gegebenen gesellschaftlichen Institutionen und Bedingungen an.
Diese sollen ergänzt und geändert werden. Die Akzeptanz gegebener
Strukturen wird beispielsweise in Art. 28 c) offenkundig, wo
„in Armut lebende behinderte Menschen“ wie eine Naturtatsache
hingenommen wird. Allein darauf scheint es anzukommen, „ihnen
und ihrer Familie den Zugang zu staatlicher Hilfe bei bedingungenbedingten
Aufwendungen…“ zu verschaffen. Hierbei soll nicht davon gesprochen
werden, dass die Convention an anderen Stellen, Hannah Arendts
Wort aus „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ aufgreift,
angesichts des im wörtlichen Sinne bodenlosen Schicksals der
Displaced Persons (heute werden sie in Deutschland „Illegale“
genannt) gehe es darum, allen Menschen das Recht zu verschaffen,
Rechte zu haben. An erster Stelle: ungefährdet an einem Ort
der eigenen Wahl zu leben. Die Akzeptanz gegebener Strukturen,
an der alle Autonomie- und Würderechte abprallen wird auch im
Art.29 kund, in dem die „Teilnahme am politischen und öffentlichen
Leben“ unter selbstverständlichem Ausschluss der Ökonomie sich
vor allem auf Teilnahmechancen an allgemeinen Wahlen beschränkt.

 

 


6.    

Menschenrechte und Zwang – ein „und“, das
durch ein „oder“ zu ersetzen ist

Das
ist ein Riesenthema. Es wird nur in einigen Aspekten, die am
ehersten mit der Disability Convention zusammenhängen aufgegriffen.
Im anschließenden Abschnitt zum Thema „Menschenrechte und Staat“
wird es fortzusetzen sein. Nicht im geringsten wird der ohnehin
hybride Anspruch erhoben, es wenigstens systematisch ausreichend
zu behandeln.

 

a)
Zwang. Der Zwangsschatten begleitet die Geschichte der Menschen
von allem uns überlieferten Anfang an. Mit einer Fülle von Schattierungen.
Wie menschengemachter oder von Menschen verursachter Zwang zwischen
einzelnen Menschen, dem Bruder und/oder Anderen gegenüber zwischen
menschlichen Gruppen als tödliche Konflikte (Kriege) Schatten
und Licht menschlichen Verhaltens schaffen, Moral und Unmoral,
Prophetie und Scheitern in nahezu allen Lebensäußerungen, lässt
sich am Alten Testament (in welcher Übersetzung immer), einem
unübertrefflichen document humaine, historisch einsehen. In
diesem Zusammenhang könnte man die sich zeitlich überschneidenden
Homerischen Ilias/Odysee, die griechischen Tragödien und andere
frühe Dokumente quer über die bewohnte Erde kumulativ ergänzend
hinzunehmen.

In
einem ersten Zugang mögen wieder Wörterbücher
anregen. Mehr können Wörter und ihre Gebrauchsgeschichte
nie tun. Im 32. Band von Grimms Deutsches Wörterbuch (Sp.932-946)
wird zunächst auf die „Grundanschauung“ verwiesen,
die auf das Verbum „zwingen“ zurückgeht: ‚mit
der Faust zusammenpressen‘.

Rasch
wird die heutige Bedeutung kund: „Als Verbalabstrakt zu zwingen
enthält Zwang auf der einen Seite Nötigung, gegen die man sich
nicht wehren kann, und auf der andere die Einwirkung einer von
außen kommenden Gewalt, mag sie nun mehr oder minder handgreiflich
oder moralisch und geistig sein.“ Noch zugespitzter: „Zwang
hat sich in neuerer Zeit mehr auf die unwillig ertragene Vergewaltigung
des Willens, der sittlichen und gestigen Unabhängigkeit gewandt:
Gewalt geschieht durch Zwingen oder Überreden.“ Zwang wird geradezu
erziehlich ausgelegt. Verbunden mit dem äußeren Zwang erscheint
er als Selbstzwang. „Zwang der Erziehung: ihren Leib in Zwang
und Zucht zu halten“ (Luther). Wo kein Zwang ist, da ist keine
Ehre. Der Zwang, den man sich selbst auferlegt, ist das Ergebnis
der Erziehung.“ (Zitatausschnitte; ihre Schreibweise ‚zwangs‘-korrigiert,
d. Verf.).

Die
Fülle der Bedeutungen der sozialwissenschaftlich, historisch
und juristisch selten im Kontext beschriebenen und analysierten
historisch-systematischen Erscheinungen von Zwang (nicht zu
verwechseln mit einem Teil derselben: „den Zwangserscheinungen“)
sind am besten nicht dichotomisch, sprich: Zwang oder nicht,
sondern skalar mit Extrempunkten zu fassen. In Sachen Zwang
muss man infolge seiner Vielgestaltigkeit und nicht zuletzt
der euphemistischen Rumpelstilzchentricks, die Zwang wortpudern,
mehrere Skalen verwenden. Sie sind immer wechselweise anzuwenden.
Die erste Skala reicht vom einen Extrempunkt, dem „unmittelbaren
Zwang“, ausgeübt mit ihrerseits unmittelbar wirksamer
physischer Gewalt, über diverse Mitterwerte zum „Staat
als einem Zwangsverbund“ (Max Weber) und dem, was man „Sachzwang“
nennt. Bis allmählich Zwang sublimer wird, abnimmt und
manchlich nie in vollkommen gelungener Freiheit und Unabhängigkeit
verschwindet, genauer: positiv durch das Beste der Menschen
ersetzt wird. Sachzwang, ein nicht unmittelbarer spürbarer,
aber menschliches Verhalten stark prägender Zwang kann
durch „Sachen“ selbst ausgeübt werden: von Maschinenaggregaten
und ihrer Funktionsweise in der Fabrik bis zu technologischen
Apparaturen heute. Sie definieren „zwangsweise“ das
Verhalten der mit ihnen Beschäftigten oder der ihnen Unterworfenen
bis ins letzte Detail. „Sachzwang“ entsteht beispielsweise
im Kontext aktueller Globalisierung durch riesige, von niemandem
steuerbare globale Machtaggregate, Global Players. Weltmarkt,
Internationale Börsen u.v.m. Die zweite Skala eichte auch
der Linie vom brutalen äußeren Zwang gewalttätiger
Mittel bis zur verhaltensförmigen Verinnerlichung von Zwang,
dem Selbstzwang. Von ihm handelt Norbert Elias im „Prozess
der Zivilisation“. Der „Selbstzwang“ oder die
innere Disziplinierung der Individuen korrespondiert dem Zwang,
den das staatliche Gewaltmonopol im Prozess seiner Etablierung
und dann als etabliertes ausübt. Max Webers „Gehäuse
der Hörigkeit“ gehört zu solchen Zwangskonstellationen.
Seiner Untersuchung von 1904 „Die Protestantische Ethik
und der Geist des Kapitalismus“ gemäß expandiert
es aus seinen europäisch-angelsächsischen Anfängen
global im Sinne einer verselbstständigten, Leistungs- und
Mehrleistungs-, Profit- und Mehrprofitstreben, Wachstums- und
Mehrwachstumsdynamik zum konkurrierenden Handlungs- und Verhaltenskorsett
der modernen Menschen und ihrer „ungeselligen Geselligkeiten“
(Kant). Zwang ist immer im Zusammenhang mit Gewalt zu erörtern
. Wie Gewalt ist Zwang. Max Webers bekannter Formulierung gemäß,
„soziologisch amorph“. Darum sind die Mittel, mit
denen Zwang ausgeübt wird und sind die Umstände, in
denen dies geschieht, in ihrem Dauerzusammenhang von Außen
und Innen immer erneut zu testen. Es gibt keinen Abschluss,
keinen fertigen Zustand. Selbst die Konzentrationlager der Nationalsozialisten
verschärften sich Stufe um Stufe. Sie sind durchgehend
durch Zwang konstituiert. Bis zur humanen Entropie: den Todeslagern.
Die Schwierigkeiten Zwangsverhältnisse zu erkennen, zum
Beispiel Zwangsvorgänge in Marktvergesellschaftungen, gar
wenn die Ungleichheit, in der gegenwärtigen Sprache ausgedrückt,
von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ als
unbefragte Prämisse „naturhaft“ vorausgesetzt
wird, die Schwierigkeiten solcher Erkenntnis haben mit der Verinnerlichung
sozialer Verhältnisse zu tun. Darum sind unter verschiedener
Perspektive immer die Genesis von Einrichtungen, beispielsweise
der angestrenten Versorgung als psychisch Kranker erkannter
Personen und deren Geltung (Funktionen) zusammenzubehandeln
mitsamt allen Einrichtungs- und Behandlungsdetails. Die untersuchenden
Subjekte müssten sich, wissenschaftlich betrachtet, ihrerseits
einem (Eigentest) ihres „objektiven“ Gewordenseins
aussetzen.

 

b)
Zwang contra Menschenrechte (b1); Zwang als Hilfsorgan der Menschenrechte
(b2); Menschenrechte radikal ohne Zwang (b3)

 

b1)
Zwang kontra Menschenrechte – ein wechselseitig exklusives
Verhältnis. Fast zu einfach versteht es sich wie von selbst,
dass Zwang in all seinen Deklinkationsformen oder verbal, als
zwingen in all seinen Konjugationsvarianten und Menschenrechte,
an Freiheit zuerst festgemacht, einander konträr gegenüberstehen.
Sie schließen einander rundum, also total aus. Menschenrechte,
wie immer man sie im einzelnen fasse, auch wenn man nicht der
institutionell-materialistischen Fassung des Komitees für Grundrechte
und Demokratie folgt – der Normen-Formen-Gleichung und vice
versa – , kreisen um die Freiheit, Integrität und Selbst-/Mitbestimmung
aller Menschen. Darum ist Gleichheit in der Vielfalt der Inidviduen
und ihrer Besonderheiten die selbstverständliche Grundlage.
Sie ist die conditio sine qua non von Freiheit, Integrität und
Selbstbestimmung. Diese Triade ist ihrerseits verbindlich miteinander
verfugt.. Der Widerspruch gegen alle Variationen groben oder
sublimen Zwangs, fremd- oder selbstgerichtet, kann schon hergeleitet
werden, wenn man die Menschenrechte aus ihren allemal phyisch-sozialräumlich
und sozialzeitlich zu verstehenden Entstehungsbedingungen entwickelt.
Menschenrechte sind eben nicht wie ihre „Allgemeine Erklärung“
auf schon fertige soziale Verhältnisse zu setzen. Wenn dies
wie im 18. Jahrhundert geschieht und bis zum heutigen Tage,
also bis zur Disability Convention immer erneut in wachsenden
Erklärungen wiederholt wird, sind die Entstehungs- und Anwendungsbedingungen
samt den nötigen Begründungen jeweils nachzuholen. Sonst verstärkt
sich die allen Norman anhaftende Gefahr leer und leerer werdender
Abstraktion. Das darf gerade bei Menschenrechten nicht geschehen.
Dass abstrahierend von Besonderheiten abgesehen wird (vgl. die
Wortbedeutung von abstrahere = von Besonderheiten absehen, Dinge
und Menschen ihrer Besonderheiten berauben). Menschenrechte
leben, wie eingangs festgestellt, von der Universalität von
Menschen in ihrer Besonderheit. Damit ist das zentrale Element
der Gleichheit gesetzt. Die zweitweise in allen Kontinenten
beobachbaren bruta facta der Sklaverei, die Geschichten kollektiver
Konflikte, Kriege von uns erkenntlichem Anfang an, die Herrschafts-
und Leidensgeschichten der Menschen mit ihren verdichteten Erfahrungen
geben überreiche und zugleich überraschend einhellige Auskunft
(vgl. nur für erste Hinweise: Orlando Patterson: Slavery and
Social Death, 1982; Shawn: Achilles in Vietnam; als jüngste
Bestätigung: Michael Massing: Iraq: The Hidden Human Costs,
in: The New York Review of Books, Vol.LIV, No.20, Dec.20, 2007,
pp.82-90; Christopher Hill: The World Turned Upside Down, Jahrbuch
Komitee für Grundrechte und Demokratie 1984 ff. Für noch tieferes
Eindringen, der härtesten Probe jeder Begründung der Menschenrechte,
siehe die KZ- und Gulag-Berichte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts
an erster Stelle. cf. Primo Levi: Ist das ein Mensch? Die Atempause,
München, Wien 1988; ders.: Die Untergegangenen und die Geretteten,
München, Wien 1990; Wassily Grossman: A Writer at War.
Vasily Grossan with the Red Army,
eds. Anthony Beevor and Luba Vinogradova, London 2005; darin
auch „Treblinka July 1944, S.280-398; Alexander Solschenitzyn:
Der Archipel Gulag, Reinbeck bei Hamburg 1978)

Emanzipation:
Menschen streben aus dem Herrschaftsgriff. Wie anders sollte
anders das möglich sein, das Ernst Bloch in einem wunderbaren
Bild ausgedrückt hat, jedem Kind eigen, selbst wenn es wörtlich
dazu nie eine körperliche Chance erhalten sollte: die Ekstase
des aufrechten Gangs.

Freiheit
hebt mit Freizügigkeit an, mit der Chance, sich von einem Ort,
einer Gesellschaft, einem Land, das einem keine zureichenden
Chancen der Mitbestimmung erlaubt, wegzugehen, eine „new frontier“
zu suchen (vgl. Albert O. Hirschman: Exit, Voice and Loyality,
1970).

Integrität
hebt damit an, dass der Körper eigen wird (habeas corpus). Sie
kann nur bestehen, wenn Gewaltzugriffe ausgeschlossen werden.
Integrität als soziale Gegebenheit ist nur möglich, wenn Menschen
einen Raum ihr eigen nennen (my home is my castle). Im Englischen
steht dafür die Kategorien der Privatheit. In der US-Verfassung
zuerst das First Amendment.

Dass
Selbstbestimmung sich mit Zwang zu Tode beißt, ergibt sich schon
aus dem Wort selber. Zwang ist die perfekte Heteronomie: die
Fremd- und Außensteuerung, die ganz nur mit unmittelbarem und
konstelletivem Zwang, beispielsweise „Totaler Institutionen“,
wie den Konzentrationslagern erreicht werden kann. Nicht von
ungefähr wird menschliches Streben gegen Heteronomie zu den
Vorkehrungen archaischer Gesellschaften, denen Pierre Clastre
den Namen „Staatsfeinde“ gegeben hat. Es ist das Grundmotiv
aller Demokratie. Wenn schon, so die Überlegung, Herrschaft
im sozialen Zusammenhang nicht gänzlich ausgeschlossen werden
könne, müsse sie in Form der Selbstherrschaft individuell und
kollektiv ausgeübt werden.

Kurzum,
ein Argument mit menschheitsgeschichtlichem Einzugsbereich und
einer Fülle von Erfahrungen, Menschenrechte und Zwang siedeln
in unterschiedlichen sozialen Welten. Sie sind mit einander
kategorisch nicht zu vereinbaren.

 

b2)
Zwang als Hilfsorgan der Menschenrechte

Was
aber, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun? Was, mehr
noch, wenn sie immer erneut, anderen Menschen ihren Willen aufzwingen,
sie verletzten, sie mit dem Tod bedrohen, töten, sie morden?
Dann ist Gegenzwang erforderlich. Dann ist er menschenrechtslegitim.
Er ist menschennotwendig. Er ist Resultat freier Menschen, die
anderer Würde, Selbstbestimmung, Integrität und Leben
schützen können. Er wird eingesetzt, um Menschen,
denen Gewalt droht oder geschieht, zu helfen. Er wird eingesetzt,
um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, der Notwehr als ihrer Grenzerscheinung.
Im Sinne des kollektiv gerechtfertigten Zwangs gegen – verbrecherische
– Zwangstäter, gegen Terroristen.

 

b3)
Der kategorische Imperativ der Menschenrechte lautet: Zwang
ist nie und nimmer als Mittel gerechtfertigt

Die
Schattulle angeblicher Erfahrungen bordet über. Jede und jeder
könnte eine solche gefüllt öffnen, um Zwangserscheinungen anschaulich
vorzuführen. Solche konnten oder könnten nur durch Gegenzwang
gestoppt oder vorausgreifend abgewehrt werden. Hierbei wird
jedoch in aller Regel Dreierlei versäumt.

Zum
einen: es wird versäumt, nicht allein kurzfristig zu untersuchen,
wie es zu Zwangsgewalthandlungen gekommen ist. Das aber gibt
den Ausschlag. Die Unmittelbarkeit von Gewaltäußerungen darf
nicht dazu verführen, sie unvermittelt zu betrachten, schlimmer
noch: unvermittelt auf sie zu reagieren. Aggressionen, die zu
tödlicher Gewalt werden, werden meist langfristig aufgebaut.
Wie ein großer Eimer, in den Wasser tropft. Erst, wenn der Film
über dem nach und nach gefüllten Wassereimer bricht, explodiert
Gewalt. Der Gewalttropfen, der bricht, kann ungleich kleiner
sein, als laut in den sich füllenden Eimer fallende Tropfen.
Ohne diese aber ist der gewalthafte Überfluss am Ende nicht
zu erklären. Erst vor allem in Zukunft in verwandten Eimer-
und Tropfenfällen nicht zu verhindern. Die Frage nach den Entstehungsgeflechten,
aus denen Gewalt/Zwang heraus entstanden ist, scheint kurzfristig
allerdings angesichts von Erscheinungen unmittelbaren Zwangs
ahnungslos oder indolent. Als könne man langweilen und warten,
wenn Menschen verletzt werden, umkommen, um geruhsam penibel
zu recherchieren. Dann ist je nach Umständen immer schon die
nächste Gewalttat passiert. Die unmittelbare Reaktion auf Gewalt
im Sinne aktueller Hilfe und Verhinderung weiterer Schlimmerungen
beschränkt sich legitimerweise jedoch meist auf wenige wahrhaft
Betroffene. Meist ist es vielmehr der Fluch einer „bösen Tat“
(F. Schiller), dass sie ohne Not andauernd „Böses“ „muss gebären“:
sprich neue Gewalt, legitimiert als Gegengewalt, als vorausgreifend
angeblich wiederholende Zwangsgewalt verhindernde Gewalt.

Zum
anderen: Unterstellt Gewaltzwang wird eingesetzt, weil ein solcher
illegitim ausgeübt worden ist oder angedroht wird. Dann wird
damit verhindert, dass andere Umgangsformen mit der vorausgesetzten
Aggression gewählt werden können. Das ist jedoch wenigstens
in all den Fällen der Fall, in denen sich nicht unmittelbare
interpersonale Gewalt
erreignet. Vor allem wird durch die Unmittelbarkeit der Reaktion
versäumt, die Hintergründe eines Gewaltzwangsakts ausfindig
zu machen, um die eventuell zu beheben. Schlimmer noch: Durch
die meist unnötige unmittelbare Unterdrückung von Gewaltzwangserscheinungen
wird mit den potentiellen und aktuellen Tätern und ihrem Umkreis,
angeblich um der Menschenrechte willen menschenrechtsverletzend
verfahren. So wird neuerdings auch von staatlichen Institutionen
und ihren Vertretern argumentiert. Es sei nicht möglich und
nötig, sich Menschen und Menschengruppen gegenüber menschenrechtsgemäß
zu verhalten, die ihrerseits die Menschenrechte anderer nicht
achteten (vgl. Susanne Krasmann: Der Feind an den Grenzen des
Rechtsstaats, in: Brigitte Kerchner/Silke Schneider (Hrsg.):
Foucault. Diskursanalyse der Politik, 2006, S. 233-250). Indem
so argumentiert und verfahren wird, werden Menschenrechte (und
damit die Menschen, denen sie gelten) zur beliebigen Dispositionsmasse
des jeweiligen menschenrechtlichen Interessenverständnisses.
Die Menschenrechte verlieren ihre Bedeutung als konstitutive
Prinzipien menschlichen Handelns. Sie werden zum jederzeit und
zu jedem Zweck zuhandenen Kampfmittel. Kurz: Menschenrechte
werden ihrerseits zum Gewaltmittel. Dessen normativer Zuckerguss
kann den Missbrauch nicht versüßen.

Zum
dritten: Unvermittelte, nicht selten vorurteils- und angstbedingte
Reaktionen verhindern nicht nur andere Formen des Umgangs mit
Gewalttaten und Gewalttätern. Die eben nicht die nächsten Quellgründe
neuer Gewaltausbrüche legen. Vielmehr werden Zwangssituationen
aus inszenierter und/oder augenmaßloser Panik projeziert. Solche
Fälle ereignen sich vor allem dort, wo bestimmte gesellschaftliche
und persönliche Normalitäten vorgesetztlich, gesetzlich und
nachgesetzlich in entsprechend geschulten Vorstellungen und
Verhaltensweisen nahezu exklusiv dominieren. Es herrscht sozusagen
nur eine Verhaltensmode. Dann erscheinen a-normale Verhaltensweisen
rasch als verrückt. Ver- rückte, also aus der Normalität gerückte,
rasch als gefährlich. Das, aber, was als gefährlich erscheint,
eignet sich zu Projektionen von Gewalt, wie immer diese ansonsten
motiviert sein mögen. Zusammenhänge wie den aktuell allgemein
geschilderten, kann man im Zusammenhang von Andersartigkeiten,
Behinderungen auch, insbesonderer psychischer Art immer erneut
beobachten. Bis in die Gegenwart reichen darum Handlungen, wurden
entsprechend Institutionen aufgebaut und auf Rechtsfüsse gestellt,
die solchen von gängigen Normalmaßen abweichenden Menschen oder
solchen, denen man helfen muss, dass sie sich zurechtfinden,
mit mehrfachem Zwang begegnen. Sie werden zum einen zwangsweise
in bestimmte „Asyle“ transportiert. Sie werden zum anderen in
diesen zwangsweise gehaltenen, also verschlossenen Sonderhäusern
nach den jeweils geltenden Standards der Psychiatrie oder anderer
Zugriffs- und Hilfsformen zu bestimmten Formen der Behandlung
gezwungen. Menschenrechtlich ist dieser Doppelzwang, sind die
Zwangsverwahrung und die zwangsweise in die Körper der Menschen
eingreifende Behandlung nicht zu rechtfertigen. Er ist, und
sei er noch so hilfeüberströmend motiviert, menschenrechtswidrig.
Allgemein gilt, weit über sogenannt psychiatrische Anstalten
hinaus: Zwangsunterbringung, die dort anhebt, wo Menschen keine
Chance haben, sich anderswohin zu begeben und Zwangsbehandlung,
die Menschen, zu der Menschen genötigt werden, stehen außer
einem menschenrechtlich tolerierbaren Raum. Schon ein Element
des Doppelzwangs befindet sich ausserhalb dieses Raums. Es gilt
für Menschen, die Bleibe und Brot suchen, aber in Lagern festgehalten
werden,

 

 

 

7.    

Menschenrechte und Staat

 

Das
Gutachten bezieht seine menschenrechtliche Reflexion auf die
Disability Convention der UN. Um diesem Ziel zu genügen, das
Gutachten aber nicht ausufern zu lassen, wird historisch-gegenwärtig
wie systematisch darauf verzichtet, den staatlichen wie den
globalen ökonomischen Kontext zu berücksichigen. Diese Lücke
ist gravierend. Gerade dieser Kontext und seine dynamischen
Faktoren wirken sich auf menschliche Behinderungen und auf den
Umgang mit ihnen. Sie bestimmen die Art und Weise, in welchem
Umfang und mit welchen Mitteln, die Staaten, die die Disability
Convention unterzeichnen werden, ihre Vorgaben und Anregungen
mehr als primär symbolisch euphemistisch befolgen. Darum muss
an dieser Stelle die erkleckliche Lücke markiert werden. Sie
kann gutachtenaktuell nicht gefüllt werden.

 

a1)
Zu einigen Merkmalen des Verfassungsstaats der Neuzeit (mit
europäisch-angelsächsischen Schwerpunkt)

Max
Weber hat den modernen Staat stimmig von anderen sozialen Organisationen
durch sein ihm spezifisches Mittel unterschieden: Dem Monopol
legitimer physischer Gewaltsamkeit.

In
einem mehrere hundert Jahre andauernden Monopolisierungs-Prozess
ist es zuerst im europäisch-angelsächischen Kontext zunächst
personal fassbaren Adeligen gelungen, sich in einem umfänglicheren
Gebiet als Herr, selten auch als Frau eines Territoriums zu
etablieren. Er tat dies mit geborgter Heereskraft. Er herrschte
über Land und Leute, genauer über ein spätfeudal zerstückeltes
Gebiet, ein ‚Nest der Zaunkönige‘. Die fürstliche oder königliche
Herrschaft beschränkte sich auf eine Oberhoheit, eingeschlossen
die hohe Gerichtsbarkeit. Sie presste an erster Stelle fürs
Kriegsgeschäft in wachsendem Maße Steuern aus den Untertanen.
Hierzu bedurfte er sich ausdehnender Verwaltung, die bald als
Bürokratie eine eigene Macht im Rahmen der Herrschaftsmacht
wurde.

Unbeschadet
seines adeligen Herrschaftspersonals versachlichte sich der
‚Personenverband‘ als Staat mit seiner ‚Maschinerie‘. Rechtssetzung
und Rechtsdurchsetzung im Sinne mehr oder minder formalisierter
regierender Interessen wurden zur Regulierung der eigenen Verwaltung
erforderlich.

Das
aus Staatsgewalt, ihrer absolutistischen Legitimation – „unmittelbar
zu Gott“ – . der Rechtsetzung/Rechtsdurchsetzung und steuerlicher
Zwangsabgabe komponierte Mehrfachmonopol, dem durchgehend der
Gewaltanspruch und die Gewaltrealität unterlagen, erfuhr
seit dem 17/18. Jahrhundert einen Prozess der Konstitutionalisierung.
Dieser wurde vor allem vom expandierenden Stadtbürgertum
und seinen ökonomischen Interessen vorangetrieben. Daraus
folgten bis in die Gegenwart reichende Entwicklungen: Aus dem
absolut regierten Staat wurde ein Verfassungsstaat. Die Willkür
der Herrschaft (arcana imperii) wurde institutionell geordnet
und in Maßen transparent. Das vom Staat beanspruchte Monopol
der Gewalt wurde in wachsendem Maße bürgerlich legitimiert.
Das geschah durch Wahlen von Repräsententen, die ihrerseits
rechtssetzende Funktionen übernahmen. Das staatlich „gesatzte“
Recht – so die Webersche Formulierung, um auf den letztlich
legislativ willkürlichen Akt der Rechtssetzung im Unterschied
zu allem traditionalen Recht aufmerksam zu machen (dem „guten
alten Recht“) – wurde aus einem primär herrschaftlich-bürokratischen
Instrument auch eine Vorkehrung der Bürger. Die Gesetze
sollten so deutlich und klar formuliert werden, dass die (Besitz-)Bürger
zuerst vor allem wussten, ob, wann und wie in ihre Rechte, an
erster Stelle ihre Besitzrechte, eingegriffen werden sollte,
warum und wie (Differenzen zur common law-Tradition werden außer
acht gelassen. Die Differenzen, mehr und mehr jedoch die Überschneidungen
zwischen der zentraleuropäischen römischen Rechts-
und der angelsächsischen common-law-Tradition werden hier
nicht beachtet. Letztere unterstrich statt einer Regelsystematik
die verfahrensrechtliche Seite: the due process of law). Der
nächste Entwicklungsprung deutete sich in der amerikanischen
und französischen Revolution zuerst an. Die Ausstattung
von Verfassungen mit Menschenrechten, staatsvorgegeben oder
Grundrechten (vor allem, lange erfolglos in deutscher Tradition)
– letztere wurden prinzipiell als staatsgegeben angesehen.

Diese
nur summarich erinnerte Entwicklung hat bis heute vier Folgen:

Zum
ersten: Staat, seine Einheit und sein auf innere und äußere
Sicherheit konzentriertes Monopol sind wie eine zweite Natur
vorgegeben.

Zum
zweiten: Der Anspruch des Staates, die oberste Lizensierungsinstanz
von zuerst physischer Gewalt zu verkörpern, wird durch dessen
rechtliche Fassung und diese wiederum durch tendenziell allgemeine
Wahlen aller Bürger- und seit dem 20. Jahrhundert Bürgerinnen
als allgemein legitimiert.

Zum
dritten: der Staat agiert primär in Formen des Rechts. Diese
sind doppelt bezüglich: staatsbezüglich und bürgerbezüglich.
Die Eigenart des modernen, staatlich gesatzten Rechts – welche
Institution immer als Legislative fungiere – besteht in der
Zwillingekoppelung zwischen Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung.
Die staatliche Exekutive und ihre hervorgehobenen Gewaltinstanzen,
zuerst das Militär, später die Polizei sorgen dafür, dass gesatzte
Rechte notfalls gewaltsam durchgesetzt werden. Staatlicher Zwang
in diesem Sinne ist legal/legitim. Dadurch garantiert staatliche
Gewalt über die legislative Genesis hinaus die tatsächliche
funktionale Allgemeinheit der Gesetze und ihrer Legitimation.

Zum
vierten: im Laufe des 19. Und 20. Jahrhunderts mehr und mehr
als Fundament und Horizont in einem verstanden fungieren Grund-
und Menschenrechte als das, was man aus dem Englischen übersetzt
den „werthaften Bezugsrahmen“ von Verfassung und Verfassungswirklichkeit
des modernen (Verfassungs-)staats nennen kann.

 

 

a2)
Menschenrechte durch den Staat

Die
politische Form der Moderne, die von Europa/den angelsächsischen
Ländern weltweit expandierte (vor, neben/mit und nach dem
Kapitalisierungsprozess), der STAAT zeitige noch im Verlaufe
der Verkündigung der Allgemeinen Menschenrechte zwei Folgen.
Zum einen wurden die Menschenrechte naturrechtlich – siehe oben
– vorstaatlich begründet. Zum anderen wurden sie, zuerst
gegen den spätsabsolutistischen Staat gerichtet, als „individuelle
Abwehrrechte“ gegenüber dem Staat, sozusagen als bürgerliche
Rechtsreservationen innerhalb des Staates.

Im
Laufe der bürgerlichen Aneignung des Staates (und umgekehrt)
– „die Bevölkerung“ wurde im 19. Jahrhundert nach französisch-amerikanischem
Vorspiel erst ‚entdeckt‘ (und ökonomisch zentral) -, wurden
die Staaten jedoch zu „N a t i o n a l staaten“ verinnerlicht
und totalisiert. Sie wurden zur einzigen politischen Bezugs-,
Rechts- und primären bürgerlichen Sicherheitsgröße. Die Konzeption
der Menschenrechte als individueller bürgerlicher Abwehrrechte
blieb zwar bestehen. Deren grundlegende soziale Voraussetzungen
wurden nicht bedacht. Darum die sozialen und ethnischen Ausschlussformen
der angeblich naturrechtlich allen gehörenden Menschenrechte
quer durchs 19. Und 20. Jahrhundert. Aus Abwehrrechten gegenüber
dem Staat, entgegen den potentiellen Eingriffen wurden jedoch
vor allem Rechte durchgesetzt, gesichert und geschützt durch
den Staat. Die (liberalen Verfassungs-)Staaten wurden zu Garanten
der Menschenrechte. Die menschenrechtlichen Gefährungen auch
durch die Verfassungsstaaten selbst wurden, um in der deutschen
Terminologie zu bleiben, rechtsstaatlich abgepuffert. Dass nur
nach Massgabe förmlich zustande gekommene Gesetze in bürgerliche
Gerechtssame eingegriffen werden dürfe. Im Zuge der „Durchstaatung“
und gesetzlichen Durchdringung der Gesellschaft aber wurden
Menschenrechte, meist ohnehin nahezu exklusiv bürgerrechtlich
eingehegt, zu staatlich gewährleisteten oder versagten Ansprüchen
und Normen. Darum konnte Hannah Arendt auch in ihrem mehr denn
je aufrüttelnden Kapitel über die Displaced Persons, Staatenlose
also, von einer Krise des Nationalstaats und den daraus folgenden
Aporien der Menschenrechte reden.

 

a3)
Menschenrechte staatenlos

Von
allem menschenrechtlichen und verfassungsstaatlichen Anfang
an stellte sich jedoch nicht nur die Frage der gesellschaftsinneren
Begründung und Sicherung der Menschenrechte. Sozusagen die „soziale
Frage“ der Menschenrechte binnenstaatlich zunächst eng verbunden
mit der Geschichte der Arbeiterklasse, lange verborgener, der
Geschichte der Frauenbewegung, heute vor allem den Bereichen
der Sozial-, der Arbeitsmarkt- und der Gesundheitspolitik. Darüber
hinaus wurde im Zuge nationalstaatlich zunehmender politischer
Schließungen die Frage menschenrechtlich dringlich, wie mit
den Nichtbürgerinnen und Nichtbürgern verfahren werden solle,
könne, müsse, die aus politischen und anderen Gründen des Lebensdarfs
migrierten, Arbeit, Aufenthalt und Schutz suchten: die Menschen,
die um politisches Asyl an die nationalstaatlichen Türen pochen,
an erster Stelle (vgl. die exemplarische Studie am Exempel Frankreichs
von Gabriel Noiriel: Die Tyrannei des Nationalen, 1984. Otto
Kirchheimer, nazigezwungener deutscher Emigrant in den USA hat
dem „Lakmustest“ der Menschenrechte qua Praxis der Handhabung
des Asylrechts durch die Staaten den Kern seines Lebenswerks
gewidmet. Cf. Otto Kirchheimer: Political Justice, ). Das Thema,
ob, in welchem Ausmaß und wie nationalstaatliche Grenzen von
wem überschritten werden können und was mit ihnen nach Grenzübertritt
geschieht, ist heute nationalstaatlich oder für ganze Blöcke
von Nationalstaaten wie die EU brisanter denn je. Das handlungsleitende
Wissen um die unsäglichen Opfer von Flucht und Vertreibung,
das noch die Menschenrechtserklärung der UN von 1948 und insbesondere
das Grundrecht auf politisches Asylrecht des Grundgesetzes von
1949 stark beeinflusste (Art.16 II GG), hat abgenommen. Es ist
ins Lob der Routine nationalstaatlicher Interessenpolitik eingegangen,
das durch die verschärfte globale Konkurrenz allemal begrenzte
nationalstaatliche Offenheit zusätzlich mit Hacken und Ösen
versehen hat. Das aber heißt: Menschenrechte als die Lebensansprüche
aller Menschen überall in ihren Besonderheiten sind mitten in
ihrer fast globalen Anerkennung gefährdeter denn je. Die Nationalstaaten,
worin immer ihr „nationales Ferment“ bestehen mag, sind kein
Hort der Menschenrechte. Letztere sind ihrerseits staatenlos.
Diese Feststellung gilt nicht „nur“ in Sachen Flüchlinge sans
papiers und Flüchlinge, die aus politischen wie humanitären
Gründen Asyl suchen. Als wären für Menschenrechte sogenannt
„humanitäre“ Gründe zweitrangig, ein Widerspruch schon im Beiwort!

 

 

a4)
Menschenrechte und die Grenzen des Staates

Der
junge W. v. Humboldt hat zu kaum noch vergleichbarer Zeit vor
rund 200 Jahren über die „Grenzen des Staates“ liberal idealistisch
gehandelt. Zu Zeiten durchstaateter und durchregulierter Gesellschaften
heute, gerade im europäisch-angelsächsischen Kontext kann darauf
nicht mehr analogisierend zurückgegriffen werden. Sehr wohl
aber empfiehlt es sich, frühliberale Vorstellungen und Vorkehrungen
in ihrer normativen Qualität und ihrer institutionellen Lösung
von Problemen zu erinnern, wenn man die heute quantitativ und
qualitativ ungleich umfänglicheren und komplexeren Probleme
menschenrechtlich angemessen angehen will. Die Menschenrechte
sind, auch wenn sie seinerzeit unzureichend begründet und konzipiert
worden sind, nicht umsonst liberal bürgerliches, aufklärerisch
emanzipatorisches Erbe. Einige Stichsätze müssen verdichtend
genügen:

Zum
ersten: Nicht die Staatssicherheit steht an erster Stelle, die
gewährleistende Sicherung der Menschenrechte zählt als Schlussstein
jedes demokratischen, auf alle Menschen bezogenen Verfassungsgewölbes.
Von den Menschenrechten ist der Ausgang zu nehmen. Sie bilden
die Hefe.

Zum
zweiten: der (zweite) ‚Naturanspruch‘ des modernen Staates ’seine‘
ungeheuer expandierten Angelegenheiten durch den Anspruch, die
Druck- und Drohkraft seines Gewaltmonopols und durch dessen
Einsatz zu regeln, ist nicht einfach aufzuheben. Er ist jedoch
als demokratisch und menschenrechtlich dauernd problematisch
zu behandeln. In gewissem Sinne ist das ‚Mitbringsel‘ des absolutistischen
Staates in die bürgerliche Verfassung und deren menschen-,
wie grundrechtlich normierte Fundierung nie zureichend eingemeindet
worden. Oder es hat sich – vergleiche die Geschichte der USA
– im Zuge der inneren und äüßeren Expansionen
mitsamt den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, dem Kalten Krieg
und den ökonomisch-technologischen Globalisierungen neu
und riesig herausgebildet: das staatliche Gewaltmonopol, seine
legitimatorische Aura, seine nicht mehr übersehbare, spinnennetzdichte
rechtlich-institutionelle Durchdringung der Gesellschaft. Sollen
zu später Stunde ernsthafte Reformen in Gang gesetzt werden,
um der globaler geltungsweit und zugleich mehr denn je prekär
gewordenen Menschenrechte willen, dann ist nicht nur der niemand
mehr übersichtliche bürger- und politikfeindliche
Regulierungskomplex zu entflechten, der längst globale
Ausmaße erreicht hat und weiterwuchert. Es gilt in seinem
Umkreis den Umgang mit staatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt
gründlich anzugehen. An erster Stelle ist der staatliche
Einsatz von Mitteln unmittelbarer Zwangsgewalt den eigenen Bürgerinnen
und Bürgern gegenüber radikal zu überdenken,
nämlich ist an die Wurzeln des funktionalen Sinns zu gehen.
Dementsprechend sind im Gegensatz zu den aktuellen Tendenzen
der unbegrenzten, technologisch geförderten und scheinsublimierten
Strafverrechtlichung die Grenzen des Strafrechts und die Grenzen
der im Strafrecht verankerten Zwangsgewalt einschließlich
entsprechender polizeirechtlicher Ermächtungen und Handhaben
neu zu ziehen. Mehr denn je zuvor steht eine Große Strafrechtserforrm
an mit eigener, von den Grund- und Menschenrechten in einer
Demokratie ausgehenden Systematik. In allen Bereichen staatlicher
Lizensierung von Zwangsgewalt sind diese Lizensierungen, der
Sache nach durchgehend kontraproduktiv nicht nur menschenrechtswidrig
zu kassieren.

Zum
dritten: Eine Sonderrolle spielt staatsalt das Monopol legitimer
physischer Gewaltsamkeit in seiner militärischen, Staatskriege
lizensierenden, zum Kernbestand staatlicher Souveränität weit
vor und über allen Bürgern erhebenden Zuspitzung. Hierzu erste
Abhilfe zu schaffen wurde die UN 1945 nach dem massenmörderischen
Weltkrieg unvorstellbaren Ausmaßes geschaffen. Ihre Charta schon
vor der Menschenrechtserklärung menschenrechtlich zentral hebt
geschichtlich erstmals die Kriege als „Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln“ auf. Die weiteren, auch innenpolitischen,
den Auf-, Aus- und Umbau der Militärapparatebetreffenden Konsequenzen, die über sechzig Jahre nach
der Gründung der UN dringlicher denn je anstehen, sollen an
dieser Stelle nur erneut als dringend zu schließende Lücke vermerkt,
nicht einmal schlagwortartig angedeutet werden.

Zum
vierten: Die Disability Convention hat nicht allein das Verdienst,
klipp und klar und ausnahmslos festzustellen: Menschenrechte
gelten strictu sensu für alle Menschen gleicherweise, wie immer
sie ihr Leben gestalten. „Normal“ oder „Anders“. Dort, wo Menschen
ihr Leben ob mancher mangelnden Fähigkeiten und Fertigkeiten
nicht so gestalten können, wie sie eventuell wollen, sollen
ihnen alle Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ihren eigenen
Bedürfnissen entsprechen. In jedem Fall ist jeder Zwang, „Normal“
zu sein, sich „Normal“ zu verhalten ausgeschlossen. Auch die
beste Hilfe verkehrt sich in ihr Gegenteil, wird sie zwangsweise
und in Zwangssituationen, als da sind alle geschlossenen Einrichtungen,
angeboten oder ist die Hilfe in irgendeiner Hinsicht mit Zwangsfolgen
verbunden. Es gibt keine „normale“ Unverstehrtheit. Es sei denn
die selbstbestimmte. Ein demokratisch und menschenrechtlich
begründetes Gemeinwesen, genannt Staat, verstößt gegen sich
selbst, wenn es Zwangskompetenzen übt oder leiht, die der Selbst-
und Mitbestimmung entgegenstehen. Sobald Zwangsgewalt in jeder
unvermittelten instrumentellen Form und in jeder Situation ohne
Ausweg für den betreffenden Menschen geübt werden soll, ist
die eindeutige Grenze staatlicher Gewalt erreicht. Diese eindeutige
Grenze befreit staatliche und staatlich lizensierte Institutionen
dazu, phantasievoll menschlich akzeptable Umgangsformen zu finden,
die nie und nimmer das nur zusammenfahrende Tandem: Unversehrtheit
und Selbstbestimmung gefährden.

 

 

 

 

II.


Wenige Schlussfolgerungen in Sachen Disability Convention

Nach
den unvermeidlich grundsätzlichen und darum zugleich spezifischen
Ausführungen zu einigen Konturen und Dimensionen der Menschenrechte – dass Allgemeine und Besondere ist gerade in ihnen dauernd
im je anderen enthalten -, mag es genügen, einige Schlussfolgerungen
im Hinblick auf das die Disability Convention zu pointieren.
Insgesamt belegt die Convention ein Doppeltes. Zum einen, dass
man mit „abweichendem“ Verhalten menschenrechtlich demokratisch
nur dann angemessen umgehen kann, wenn man „die Normalität“
weitet und ändert. Unzulässig ist es in jedem Fall: im Verhalten
abweichende Menschen auszuschließen, indem man ihnen ihre Normalität
verweigert. Gewaltanwendung ist in jeder Hinsicht illegal und
illegitim. Recht bleibt nicht Recht, das angeblich zu Gewalthandlungen
ermächtigt. In diesem Sinne ist die Disability Convention eine
Ability Convention, eine, die instandsetzen soll, politisch,
gesellschaftlich allgemein menschenrechtlich zu verfahren. In
diesem Sinne bietet die Convention eine große Chance. Zum anderen
lebt die Convention vom Wissen, dass man mit Menschenrechten
nicht verfahren kann wie einem Fiaker in Wien, den man am Ring
besteigt, dem man am Schwedenplatz entsteigt, jeweiils in Sachen
Fiaker voraussetzungs- und der Fahrt mit ihm folgenlos. Wer
Menschenrechte sagt, bewahrt die Menschenrechte aller in sich
auf und zieht für die eigene Praxis entsprechende Konsequenzen.
Die eigenen Menschenrechte sind so gut, wie sie in den Menschenrechten
aller, der Mühseligen, Beladenen aufgehoben sind. Dass Menschen
verachtet werden, dass sie verkommen, dass ihnen Gewalt angetan
wird – all das sind keine menschenrechtlichen Verben und mit
ihnen verbundene Verhaltensweisn.

 

1.     

Die Disability Convention gibt die Spannung
wider, dass alle Menschen unterschiedlich behindert undbeeinträchtigt sind. Es gibt keinen perfekten
Menschen, er wäre denn ein höheres, den Körper transzendierendes
Wesen. Aus den Unterschieden und der geschöpflichen Einheit
des Menschen folgen drei ineinander verhakte Imperative. Sie
sind recht verstanden alle in Kants kategroischen Imperativen
enthalten: Menschen dürften Menschen nie primär als Mittel behandeln;
Menschen müssten sich anderen Menschen gegenüber so verhalten,
dass sie der Menschheit, also den gesammten Möglichkeiten und
Ansprüchen des Menschen gegenüber Rechenschaft ablegen könnten.

a)    

Menschen sind im Rahmen der Spezies homo
sapiens in fast jeder sonstigen Hinsicht historisch gegenwärtig
so verschieden, dass sie ihre Einheit als Menschen und ihre
einheitliche Qualität Menschlichkeit nur erringen, bewahren
und bewähren können, wenn sie in allen verwandte Ansprüche und
Rechte wahrnehmen.

b)   

Andere und ihr anderes Verhalten sind keine
allein wahren Normalität zu unterwerfen. Es gibt keine
Tugend oberhalb der Fülle der andersartigen Menschen. Sonst
bleibt im Exzess nur die Robespierre’sche Devise: die (von ihm
und dem „Wohlfahrtsausschuss“ seinerzeit angeblich gekannte)
„Tugend“ „muss“ „durch den Schrecken herrschen.“ Dann spielen
„Humanismus und Terror“ zusammen (Merleau-Ponty).


c)    

Menschen sind wechselweise auf Hilfe angewiesen.
Manche mehr als andere. In diesem Sinne kann das angezeigt sein,
was in den USA nach 1970 „Affirmative Action“ genannt worden
ist. Alle Hilfe hat dort ihre Grenze, wo sie die selbstbestimmte
Integrität dessen, dem geholfen werden soll, im Zugriff, nicht
aufgedeckten Eingriff und in einer auswegslosen Falleneinrichtung
nicht geachtet werden. Zu solcher Hilfe gehören jedoch nicht,
gerade wenn man dem Sinn der Convention folgt, dass zum einen
besonderer Wert auf „Statistik und Datensammlung“ im Umkreis
von Behinderten diverser Art gelegt wird (vgl. Art.31 und an
anderen Stellen). Die gesammenten Daten sollen auch pauschal
formuliert „soweit erforderlich desagggregiert und dazu verwendet
werden ..“ (Art.31, 2.). Daten/Informationen sind bekanntlich
fast nie „unschuldig“ und verwendungsneutral. Also müsste in
diesem Zusammenhang mindesteens ein feinziselierter Datenschutz
vorgesehen werden. Zum anderen können die „internationale Zusammenarbeit“
in Sachen „Entwicklungsprogramme“, „Technologien“ u.ä.m. (Art.32)
für diejenigen, denen sie gilt, äußerst ambivalent ausfallen.
Schon Art.25 b) zur „Gesundheit“ ist fragwürdig. Es kommt dort
wie anders nahezu alles auf die Umsetzung an. Dieser Artikel
steht auch in Spannung mit dem gesamten Ansatz der Disability
Convention die ‚Normalität der Abweichungen‘ hervorzuheben und
Hilfen nicht zu Ansatzpunkten erneuter Diskriminierungen werden
zu lassen. Unter Art.25 b) heißt es: „die Gesundheitsgebiete
anbieten, die von behinderten Menschen speziell wegen ihrer
Behinderungen benötigt werden, gegebenenfalls einschließlich
der Früherkennung und Frühintervention, sowie Dienste, um weitere
Behinderungen möglichst gering zu halten oder zu vermeiden …“
Als wären „Früherkennung“ und „Frühintervention“ im Vollzug
so unproblematisch, wie sie sich lesen. Als stünde in diesem
Zusammenhang nicht die gesamte Integrität eines Menschen und
einer Menschengruppe eventuell zur Disposition – ein allgemeines
Problem gesundheitspolitischer Prävention.

 

2.     

Normalität als „Normalitätsgewalt“, und
sei sie noch so gesetzlich vertäut und mit den besten Absichten
verbunden, ist nicht akzeptablel. Die jeweilige Normalität ist
zu erweitern. Verständlicherweise schwankt die Convention zwischen
zwei Forderungen hin und her, die ihrerseits nicht wie ein Entweder-Oder
zu behandeln, sondern additiv und ergänzend zu verwirklichen
sind. Zum einen wird von den „Vertragsstaaten“ „ein integratives
Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung“
propagiert. Von „vollständiger Integration“ u.ä, ist die Rede
(Art.24 1., 2d und anderwärts). In anderem, allerdings eher
materiellen Zusammenhang ist von „behinderungsspezifischen Bedürfnissen“
(Art.28 2a) die Rede. Es ist hier nicht zu richten. Wohl aber
ist es sehr wohl angebracht, dass möglichst überall – das gilt
analog für nicht auffällig behinderte Menschen sonst ebenso – Alternativen angeboten werden: Beispielsweise „integrative“
Bildungsangebote mit Angeboten, die die Sonderheiten achten,
ohne daob Diskriminierungen Auskristallisierungschancen zu bieten.

 


3.     

Zwangsfrage 1: Die Convention verdient
dort nachdrücklich in ihrer menschenrechtlichen Stimmigkeit
hervorgehoben zu werden, wo sie sich zur „persönlichen Freiheit
und Sicherheit“ äußert.

Art.14 lautet:

„Persönliche Freiheit und Sicherheit

1.   

Die Vertragsstaaten
gewährleisten, dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit
anderen

a)    

das Recht auf persönliche Freiheit und
Sicherheit genießen;


b)   

die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich
entzogen wird, dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit
dem Gesetz erfolgt und das Vorliegen einer Behinderung in keinem
Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.“

Diesen unmissverständlichen Normgehalt hat das Rechtsgutachten
von W. Kaleck und anderen mit triftiger Begründung als Grundlage
benutzt, umgrund-, menschenrechts-
und grundrechteschlüssig herauszuarbeiten, dass das Berliner
PschyKG (wie alle ähnlichen PsychKGs anderer Bundesländer),
das Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung zum Recht erhebt,
Unrecht ist. Diese schon zuvor unabweisbare Feststellung ist
durch das Rechtsgutachten zur Convention, das diese auf bundesdeutsches
Recht anwendet, vollends erhärtet worden. Klipp und klar gilt:
Gesetze, die erlauben, Personen in geschlossene Anstalten zu
bringen , die als „psychisch krank“ bezeichnet und ärztlich
diagnostiert werden, sind nicht rechtens im grund- und menschenrechtlichen,
nun von der UN-Convention wiederholten, weil schon in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte von 1948 implizierten Sinn.

Ebenso ist grund- und menschenrechtswidrig, so Art.1
Abs.3 GG zählt, dass Personen, die ärztlich als psychisch krank
diagnostiziert worden sind, sei es in einer geschlossenen Anstalt,
sei es anderswo in einer Weise zusätzlich zwangsbehandelt werden,
dass sie pharmazeutische Mittel einzunehmen gedrungen werden,
beispielsweise mit dem zusätzlichen Mittel von Drohungen. Menschen-
und gesetzeswidriger Zwang ist es dazuhin – im Rahmen psychiatrischer
Behandlungen und ihrer Geschichte hat es zu viele Untaten gegeben – irgendwelche sonstigen Zwangsinstrumente als da sind Fesselungen,
Schickbehandlungen und dergleichen im Umgang mit Menschen zu
verwenden. Psychiatrie, die sich irgendwelcher Zwangsmittel
bedient, ist nicht als Wissenschaft oder Heilkunde zu verbuchen,
sondern als staatlich nicht lizensierbare Zwangsausübung. Sonst
geschähe, mit Gustav Radbruch gesprochen, gesetzliches Unrecht.

 

4.     

Zwangsfrage 2:So unmissverständlich Art.14 Abs. 1 der Convention
ausgefallen ist, so eindeutig und klar das Berliner Rechtsgutachten
normativ im Rahmen der Menschenrechte und des Grundgesetzes
wie empirisch aufgrund entsprechende Untersuchungen zu Verhaltensweisen
sogenannt psychisch Kranker ausführt, es bleiben in Art.14 Abs.1
und vor allem in Art 14 Abs. 2 mögliche Fehlverständnisse.

Im zitierten Art. 14 Abs.1 b) kommt die Formulierung
„und das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine
Freiheitsentziehung rechtfertigt“ in einem „dass“-Satz,
in dem zuerst ausgedrückt wird, die Vertragsstaaten gewährleisteten,
„dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt.“
Liest man diesen Satz zusammen mit seinem folgenden, der gerade
angeführt worden ist, dann heißt das: es kann kein
rechtmäßiges Gesetz vorliegen, kein Behördenvertreter,
kein Arzt und kein Richter dürfen sich daran halten, wenn
irgendeine Behinderung und eine Äußerung, die mit
ihr in Verbindung steht, dazu herhalten soll, jemandes Freiheit
zu entziehen.

 


5.     

Zwangsfrage 3: Art 14 Abs.2 lautet:

„Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass behinderte
Menschen, denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen
wird, gleichberechtigten Anspruch auf die in den internationalen
Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien haben und im Einklang
mit den Zielen und Grundsätzen dieses Übereinkommens behandelt
werden, einschließlich durch die Bereitstellung angemessener
Vorkehrungen.“

Diese Artikelpassage ist erneut unmissverständlich zu
vertäuen. Was meint es, wenn formuliert wird, behinderte Menschen
„denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen wird“
? Kaleck und andere interpretieren sie korrekt. Behinderten
Menschen kann als „b e h i n d e r t e n“ Menschen, das heißt
aufgrund irgendeiner Eigenschaft und Verhaltensweise, die infolge
ihrer Behinderng entsteht und erklärlich ist, ihre Freiheit
in keiner Nuance entzogen werden. Verfahren, die diese Exklusion
einer Fülle von möglichen Urteilsgründen nicht peinlich berücksichtigen,
die im Zweifelsfalle nicht auf behinderungsbedingteUrsachen erkennen, sind rechtswidrig, die betreffenden
Gesetze sind vor dem Urteilshof der Menschenrechte und seinen
Spiegelungen in liberaldemokratischen Verfassungen null und
nichtig.

 

 

6.
Zwangsfrage 4: § 63 StGB lautet:

„Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus. Hat jemand eine rechtswidrige
Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der
verminderten Schuldfähigkeit (§21) begangen, so ordnet
das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner
Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche
rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für
die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Liest
man diesen Paragraphen ruhig und genau durch, dann springt ins
Auge, wie fahrlässig und pauschal in einem Strafrechtsparagraphen
formuliert wird, der zum offenen Tor nicht ins Freie, sondern
in einer psychiatrische Zwangsanstalt wird. Schon das, was ein
„psychiatrisches Krankenhaus“ ausmacht, wird nicht
präzisiert. Dann folgt eine zweigliedrige Kette zusammengegliedert,
so das pauschale Ausdrücke möglich machen, aus G e
s a m t würdigungen von Täter und Tat. Aus solchen
gekoppelten Pauschalitäten wird eine dritte übergreifende.
Unbestimmt bleibt der „Zustand“ des Täters. Wird
er gerichtlich oder psychiatrisch „sachversändig“ einer
– und welcher? – Anamnese unterworfen? Nun folgt die große
Kunst der Prognose, deren Anhaltspunkte und deren Methode erneut
radikal, sprich bis zum Grund der Prognose offen bleiben. Die
Fülle der dazuhin meist unerkannten, weil in Anstalten
umgekommenen Prognosen bzw. Prognostizierten geht auf keine
Kuhhaut. Das einzige Element der Progose, das verlässlich
prognostizierbar ist, ist ihre aller verlässlichen Professionalisierung
spottende Willkür. Die Krone der Pauschalitäten, wenn
dieses krumme Bild gestattet ist, aus denen der § 63 StGB
geradezu perfekt besteht, wird aus der ihrerseits pauschal unterstellten
pauschalen „Gefährlichkeit“ für das zusammengestellt,
was höchst präzise „Allgemeinheit“ genannt wird. Was
für ein Strafgesetzparagraph, der nach dem Skakesspearschen
Motto urteilen lässt: was euch gefällt! Der seriöse
Gesetzgeber sollte ihn so oder bei bei nächster Gelegenheit
pauschal kassieren.

 

Dieser
§ 63 StGB widerspricht zusätzlich der Disability Convention
restlos. Hier wird jemand wegen seiner Behinderung bestraft.
Jeden auch nur hauchhaft sachverständige Person weiß – von den
betroffenen Personen, die zwangspschiatrisch einquartiert werden,
zu schweigen -, dass dieser Art von „Sicherheitsverwahrung“
jede trotz allem ungleich berechenbarere und rechtssichere Justizvollzugsanstalt
vorzuziehen wäre. Wolfgang Kaleck und andere haben in ihrem
Rechtsgutachten erneut das Nötige dazu gesagt. Sie haben zugleich
auf die erdrückende Fülle von Erfahrungen hingewiesen, die belegen,
dass Menschen, die man in ein „psychiatrisches Krankenhaus“
gerichtsurteilzwingen will, gerade keine „Gefahr für die Allgemeinheit“
darstellen, sollte diese Gefahr in Gewaltäußerungen gegen andere
oder sonstigen Gefahren für Leib und Leben bestehen.

Schließlich
haben Kalek und andere auf eine ungewöhnlich klarsichtige, in
jedem Satz juristische Kompetenz zeigende Hamburger Dissertation
von Annelie Prapolinat am Fachbereich Rechtswissenschaften aus
dem Jahr 2004 hingewiesen. Ihr Titel (im Internet zu finden):
„Subjektive
Anforderungen an eine ‚rechtswidrige Tat‘ bei § 63 StGB“
.

Hat
man A. Prapolinats Arbeit gelesen und studiert erneut § 63 StGB,
dann zerfällt dieser wie schimmlige Pilze rasch und ohne Überbleibsel.
Ein Zitat aus der 109 engzeilige Seiten umfassenden Monographie,
einem Muster bester juristischer Dissertation mag und muss an
dieser Stelle genügen:

„Nach
der Vorsatztheorie ist das Unrechtsbewusstsein Teil des Vorsatzes.
Geht der Täter irrtümlich vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen
eines Rechtfertigungsgrundes aus, ist darin nach Vorsatztheorie
ein Tatbestandsirrum zu sehen. § 16 I 1 findet direkte Anwendung:
mangels Vorsatz liegt keine rechtswidrige Tat vor. Zu einer
direkten Anwendung des § 16 I 1 gelangt auch die Lehre von den
negativen Tatbestandsmerkmalen (die der eingeschränkten Schuldtheorie
im weiteren Sinne zugerechtnet werden kann), welche einen zweistufigen
Deliktaufbau vertritt und mit Annahme der objektiven Bedingungen
der Strafbarkeit und der Schuldelemente sämtliche unrechtsbegründenden
und – ausschließenden Merkmale unter den Begriff des Gesamt-Unrechtstatbestandes
faßt.“

Nach
dieser Ansicht gehören zum Vorsatz sowohl die Kennnis aller
positiven Umstände des Tatbestandes als auch das Wissen um das
Nichtvorliegen der sog. Negativen Tatbestandsmerkmale, das heißt
z. B. Merkmalen eines das Verhalten im konkreten Falle rechtfertigenden
Erlaubnistatbestandes. Nach der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen
entfällt bei irriger Annahme rechtfertigender Tatumstände damit
der Vorsatz als solcher. Eine analoge Anwedung des § 16 I 1
bejaht die eingeschränkte Schuldtheorie im engeren Sinne. Die
Vertreter dieser Meinung sehen die Merkmale von Tatbestand und
Erlaubnisbestand im Hinblick auf die Frage nach der Strafrechtswirdigkeit
eines Verhaltens als qualitativ gleichwertug an. Mithin müsse
ein Erlaubnistatbestandsirrum die gleiche rechtliche Behandlung
erfahren wie ein Tatbestandsirrum. Die dogmatische Behandlung
eines Erlaubnistatbestandsirrums innerhalb der eingeschränkten
Schuldtheorie im engeren Sinne ist allerdings uneinheitlich.
So werden differenzierend Vorsatzunrecht oder Handlungsunwert
der Tat verneint. Im Gegensatz zu den drei genannten Theorien
ist nach der strengen Schuldtheorie der Irrtum über die tatsächlichen
Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes als ein Verbotsirrtum
im Sinne des § 17 anzusehen.

 

6.     

Zwangsfrage 5. Kurzum, wie immer man die
strafrechtlich erkannte Frage der Tatschuld behandele, zu welchen
Folgerungen man gelange, wie gegebenenfalls der Strafvollzug
zu gestalten sei – alles höchst relevante und in Sachen staatlicher
Zwang menschenrechtlich prekäre Angelegenheiten, die nach Alternativen
verlangen -, fraglos ist: folgt man der Disability Convention
und ihrem insgesamt überzeugenden menschenrechtlichen Gehalt
und folgt man ihrer konsequeten Um- und Übersetzung des Berliner
Rechtsgutachtens auf die PsychKG Berlins dann gibt es nur einen
menschenrechtlichen und grundrechtlichen, also dem Grundgesetz
angemessenen Weg: jegliche Zwangsbehandlung behinderter Menschen,
hier vor allem diejenige sogenannt psychisch Kranker ist strikt
ausgeschlossen.

 

 

 

III.


Knappe abschließende Bemerkungen. Diese werden sobald ausgeführt,
die die grundsätzlich nötige Entscheidung des grund- und menschenrechtsbewussten
Gesetzgebers getroffen ist


1.    

Bezogen zunächst allein auf den Bereich
der sogenannt psychisch Kranken, der Psychiatrie und ihren Einrichtungen,Ist die Entzwingung aller derjenigen erfolgt, die in
ihrem Verhalten Stücke weit von dem abweichen, was Normalität
genannt wird (und interpretatorisch auch die Normen und ihre
Auslegung dominiert), steht eine Reform der Psychiatrie und
ihrer Berufe an erster Stelle der Dringlichkeitsliste.

2.    

Zusammen mit der überfälligen Reform der
Psychiatrie ist es vonnöten die Berufspraxis und die Institutionen
der psychiatrischen Berufe zu ändern. Zu allererst müssen die
Geister der Transparenz und der ausweisbaren Kompetenz die Institutionen
durchwehen. Ein Abschied von Mitteln ist geboten, deren Wirkungen
nur behauptet werden. Nur Mittel sind zwangsfrei auszuhändigen,
freiwillig, informiert und beraten von den Menschen nachgesucht,
die sie selbstentschieden bedürfen.


3.    

Was ansatzweise mancherorts schon Wirklichkeit
geworden ist, ist auszubauen und konsequent fortzusetzen. Die
Schaffung von sozialen Räumen nämlich, in denen Menschen ohne
repressive Behandlung ihr Leben leben können, das sie auf dem
’normalen‘ Arbeits- und Wohnmarkt nicht gleicherweise führen
können und wollen.

4.    

Im Kontext des menschenrechtlichen Begründung
wurde auch und vor allem staatliche Gewalt als erhebliches Problem
aufgeworfen. Zuerst in den Bereichen, in denen Menschen unmittelbar
staatlicher Gewalt unterworfen sind, zugleich aber und im Sinne
eines großen demokratisch menschenrechtlichen Reformprojekts
darüberhinaus sind alternative Formen der Konfliktlösungen jenseits
innerer und äußerer Gewalt gerade zu Zeiten der Globalisierung
und zunehmender Gefahren kollektiver Gewaltkonflikte dringender
denn je.

Gez.

Prof.
Dr. Wolf-Dieter Narr
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften FU Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Potsdamer
Straße 41, 12205 Berlin

Telefax:
(030) 833 7162

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Kommentar zum Ausdrucken: als PDF-Datei herunterladen


Kommentar
von Prof. Dr. Eckhard Rohrmann, Universität Marburg
Institut für Erziehungswissenschaft, Bereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik

Marburg,
den 13.02.2008

Lieber
Herr Talbot, lieber Herr Pankow,

Haben
Sie vielen Dank für die Übersendung der gutachterlichen Stellungnahme
zur Vereinbarung der UN Disability Convention mit dem PsychKG
Berlin im Hinblick auf die dort verankerten Regelungen zur
Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker
im Sinne des PsychKG. Gerne komme ich Ihrer Bitte um eine
Kommentierung nach.

I.     
Psychische Krankheit, wie auch geistige Behinderung im Sinne des PsychKG
Bln wird verstanden als ontologische Kategorie, d. h. als
ein Merkmal, welches den Betroffenen gewissermaßen wesenshaft
innewohnt. Immer mehr setzt sich jedoch die Auffassung durch,
dass es sich hierbei um soziale Konstrukte handelt, die dann
entstehen, wenn bestimmte Verhaltensweisen von Außenstehenden
nicht verstanden werden und die, von einschlägigen Fachleuten,
wie Psychiatern oder Sonderpädagogen, zur Diagnose manifestiert,
das Unverstandene dann scheinbar erklären und so die
Beantwortung sozialen Ausschlusses durch Einschluss in entsprechende
Institutionen rechtfertigen. Der zunächst gedanklichen
folgt dann meist die institutionelle soziale Konstruktion,
welche die gedankliche scheinbar immer wieder bestätigt.
(Vgl. hierzu mein Buch „Mythen und Realitäten den
Anders-Seins – Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen
Neuzeit“ [Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
2007] oder für den Kreis der sog. geistig Behinderten:
Feuser, Georg: Geistigbehinderte gibt es nicht. Projektionen
und Artefakte in der Geistigbehindertenpädagogik. In
Geistige Behinderung, 35. Jg., Heft 1/1996, S. 18-25). Dennoch
finde aber die Argumentation nachvollziehbar, dass dann, wenn
dieser Begriff aufgrund einer entsprechenden Diagnostik auf
eine bestimmte Person im Sinne des § 1 PsychKG Bln zur
Anwendung kommt, die Betroffenen zum Kreis der Behinderten
im Sinne der UN Konvention gehören. Dafür spricht
neben den im GA angesprochenen Gründen auch, dass davon
auszugehen ist, dass das der Konvention zugrunde liegende
Behinderungsverständnis zwar nicht explizit, aber inhaltlich
abgeleitet ist aus der International Classification of Functioning,
Disability and Health (ICF), in der die Defizitorientierung
früherer Klassifikationen zwar nicht völlig überwunden
wurde, jedoch eine vor allem an Ressourcen und sozialen Bedingungen
orientierten Betrachtungsweise überwiegt, die zwischen
Impairment, Activity und Participation unterscheidet und das
Augenmerk insbesondere auf die persönlichen Fähigkeiten
und die soziale Teilhabe eines Menschen richtet. Ausdrücklich
wird dort betont, „dass die ICF keine Klassifikation
von Menschen ist. Sie ist eine Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken
von Menschen im Kontext ihrer individuellen Lebenssituation
und den Einflüssen der Umwelt. Die Interaktion zwischen
Gesundheitscharakteristiken und Kontextfaktoren resultiert
in Behinderungen. Deshalb dürfen Personen nicht auf ihre
Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität
oder Beeinträchtigungen der Partizipation [Teilhabe]
reduziert oder nur mittels dieser beschrieben werden. Zum
Beispiel verwendet die Klassifikation statt ‚geistig behinderte
Person‘ die Umschreibung ‚Person mit einem Problem im Lernen‘.
Die ICF sichert dies, indem sie Bezüge zu einer Person
mit Begriffen für Krankheiten oder Behinderungen vermeidet
und durchgängig eine neutrale oder positive und konkrete
Sprache verwendet“(WHO: Internationale Klassifikation
der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (IFC).
Stand Oktober 2005. Hrsg. vom Deutschen Institut für
Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, WHO-Kooperationszentrum
für das System Internationaler Klassifikationen. Genf
2005, S.171). Damit allerdings steht die IFC in einem diametralen
Widerspruch zur ICD 10, der an dieser Stelle allerdings nicht
zu vertiefen ist. Da die Konvention Behinderung aber ganz
sicher nicht i. S. der ICD 10, sondern der IFC versteht, erscheint
mir die Auffassung, dass der im § 1 PsychKG definierte
Personenkreis allein schon durch die gesellschaftliche Praxis
im Umgang mit den Betroffenen zur Gruppe der Behinderten i.
S. der Konvention, zählen, auf jeden Fall sehr schlüssig
zu sein

.

 

II.     
Als juristischen Laien hat mich das Gutachten jetzt auch aus rechtswissenschaftlicher
Perspektive in meiner Auffassung bestätigt, dass die Zwangsunterbringung
und die Zwangsbehandlung psychisch Kranker im o. g. Sinne
nach dem PsychKG Bln und entsprechenden Rechtsvorschriften
in anderen Bundesländern einen Verstoß gegen die UN Konvention
darstellen. Interessant wäre es nun, zu untersuchen, welche
Schussfolgerungen daraus für das Betreuungsrecht im Allgemeinen
und für die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen nach
§ 1906 BGB im Besonderen zu ziehen sind. Zumindest, aber ich
vermute mal, nicht nur dann, wenn sie „auf Grund einer psychischen
Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung“ (Abs.
1, Nr. 1) müssten sie in gleichem Maße gegen die Konvention
verstoßen, wie die Freiheitsentziehung nach PsychKG.

III.     
Das Gutachten hat für mich exemplarischen Charakter. Die UN Konvention
enthält aus meiner Sicht eine Reihe von weiteren Regelungen,
die in einem eklatanten Widerspruch zur gegenwärtigen Praxis
im Umgang mit Behinderten im Sinne der Konvention und den
jeweils zugrunde liegenden Rechtsvorschriften, die diese Praxis
ermöglichen, stehen. Dazu zwei Beispiele aus meinem Arbeitszusammenhang,
die durchaus zu erweitern wären:


1.
Der Art. 19 der Konvention
lautet:

Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens
anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen,
mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der
Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete
Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss
dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft
und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie
unter anderem gewährleisten, dass

a) Menschen mit
Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren
Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem
sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen
zu leben;

b) Menschen mit
Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten
zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen
Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen
Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft
und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung
von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig
ist;

c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen
mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung
zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.

Der
deutschen Bundesregierung ist durchaus bekannt, dass „die
Zahl der Heimunterbringungen (…) nach verbreiteter Einschätzung
zunehmend gesenkt werden (könnte). Von vielen Behinderten – auch schwerstbehinderten Menschen – selbst wird der Ausbau
individueller Wohnformen gefordert; dieser Prozess setzt den
Ausbau ambulanter Dienste voraus, die die Betroffenen weitgehend
beteiligen und deren persönliche und soziale Kompetenz stärken“.
So steht es wortgleich in ihrem dritten (1994, S. 178) und
vierten (1998, S. 85), nicht mehr allerdings im fünften (2004)
Behindertenbericht. Trotzdem werden die Voraussetzungen, die
dafür erforderlich sind, nicht geschaffen.

Abb. 1: Anzahl
der Plätze in der stationären Behindertenhilfe je 100.000
Einwohner

 

Im
Gegenteil. Statt neue ambulante Dienste und behindertengerechte
Wohnungen zu schaffen, werden immer mehr Heime gebaut mit
der Konsequenz, dass die Anzahl der Heimunterbringungen nicht
nur nicht sinkt, sondern kontinuierlich steigt. Jedes Jahr
erreicht die Anzahl der Heimplätze für Behinderte
neue Rekordhöchststände. Sie stieg zwischen 1993
und 2003 kontinuierlich um 55 Prozent von 115.648 auf 178.924.
Die Institutionalisierungsquote, ausgedrückt in Heimplätzen
je 100.000 Einwohner stieg im selben Zeitraum um gut 52 Prozent
von 142 auf 217 (Abb. 1). Damit nicht genug. „Eine nicht
genau bekannte Zahl vor allem geistig oder mehrfachbehinderter
Menschen, die häufig auch ein hohes Maß an Pflegebedürftigkeit
aufweisen, ist noch immer in psychiatrischen und neuro-logischen
Krankenhäusern, in geriatrischen Kliniken sowie in Altenpflegeheimen
untergebracht. In den neuen Bundesländern betraf dies 1994/95 etwa fünftausend Personen. Vergleichbare
Daten für die alten Bundesländer sind nicht bekannt;
es ist aber davon auszugehen, dass auch dort noch behinderte
Menschen in psychiatrischen Einrichtungen und in Altenpflegeeinrichtungen
leben" (Bundesregierung: Vierter Behindertenbericht
1998 S. 88). Wir wissen aufgrund eigener Erhebungen, dass
allein in Hessen mit ca. sechs Mio. Ende 2000 mehr als 1.400
Menschen unter 60 Jahren in Altenheimen lebten, von denen
immerhin acht jünger als 25 Jahre waren, als sie dort
untergebracht wurden.

Menschen,
die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, sind – insbesondere, wenn dies gegen ihren Willen geschieht – in
weit geringerem Maße Subjekte ihres Alltages, als Menschen,
die in einer eigenen Wohnung leben. Sie können ihn in der
Regel kaum selbst strukturieren und seinen Ablauf bestimmen,
sondern sie sind, je nach Offenheitsgrad der jeweiligen Einrichtung,
in unterschiedlichem Maße, Objekte einer meist explizierten
Heimordnung, die den Tagesablauf mehr oder weniger umfassend
fremdbestimmt. Elementare Grundrechte, z. B. das Recht auf
Unverletzlichkeit der Wohnung gelten für Heimbewohnerinnen
und Heimbewohner nicht, ein Heim ist keine Wohnung. Ohnehin
genießen nur 41% der Insassen von Behinderteneinrichtungen
in den alten und etwa 22% in den neuen Bundesländern den Luxus
eines Ein-Bett-Zimmers (Bundesregierung 1998: 88) und der
Anteil wird in den nächsten Jahren eher sinken als steigen,
wenn das Beispiel des Bezirkes Oberfranken künftig Schule
macht. Dort hat der Bezirkstag in seiner Sitzung am 12. Februar
2004 beschlossen, sog. „Einzelzimmerzuschläge“ für Sozialhilfeempfänger,
die in Heimen leben, zu streichen und die Heimträger aufgefordert,
die Betroffenen in Mehrbettzimmer umzuquartieren.

Neben
der muralen Ausgrenzung sind insbesondere Menschen, die in
Deutschland auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind,
das betrifft nicht nur behinderte, sondern ebenso und vor
allem auch alte Menschen, zusätzlich und in wachsendem Maße
von z. T. lebensbedrohender Vernachlässigung und Misshandlung
bedroht und betroffen. Mittlerweile hat das deutsche Heimwesen
sogar die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen. Am 24.
September 2001 brachte das eigentlich für eher zurückhaltende
Äußerungen bekannte UNO-Komitee für wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte (CESCR) anlässlich der routinemäßigen
Vorlage des entsprechenden vierten Staatenberichtes der Bundesrepublik
Deutschland „seine große Besorgnis über inhumane Bedingungen
in Pflegeheimen aufgrund struktureller Mängel im Pflegebereich,
wie dies vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDS)
bestätigt worden ist“ (CESCR 2001: Nr. C24), zum Ausdruck
und „drängt die Bundesrepublik, dringende Maßnahmen zu ergreifen,
um die Situation der Patienten in Pflegeheimen zu verbessern“
(a.a.O.: Nr. E42). Zur gleichen Einschätzung gelangte 2003
auch die Antifolterkommission der Europäischen Union.


2.
Der Art. 24 der Konvention
lautet:

1.
Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht behinderter Menschen auf Bildung.
Um die Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierung und
auf der Grundlage der Chancengleichheit zu erreichen, gewährleisten
die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen
Ebenen und lebenslange Fortbildung, … .

2.
Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher,

a.
dass behinderte Menschen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom allgemeinen
Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass behinderte Kinder
nicht auf Grund ihrer Behinderung vom unentgeltlichen und
obligatorischen Grundschulunterricht oder von der Sekundarschulbildung
ausgeschlossen werden;

b.
dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft,
in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen
und unentgeltlichen Grundschulunterricht und einer entsprechenden
Sekundarschulbildung haben;

c.
dass angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen
werden;

d.
dass behinderte Menschen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige
Unterstützung erhalten, um ihre wirksame Bildung zu erleichtern;

e.
dass in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame
individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld,
das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet,
angeboten werden.

Tatsache
ist, dass in Deutschland die Schulgesetzgebung der Länder
durchweg bis heute von der überkommenen Ansicht geprägt ist,
Behinderte seien besondere Menschen, die deswegen in besonderen
Schulen pädagogischer Sonderbehandlung bedürften. Im Jahr
2003 besuchten 429.352 von insgesamt 492.721 Schülerinnen
und Schülern bei denen, wie es neuerdings heißt, „sonderpädagogischer
Förderbedarf“ festgestellt wurde, also gut 87% von Ihnen,
eine Sonderschule. Trotz einer von der KMK proklamierten zunehmenden
Tendenz, Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch
in allgemeinen Schulen zu unterrichten, ist die Zahl der Sonderschüler
von 1994 bis 2003 von 382.300 auf 429.352 um 12,3% gestiegen.
Die Sonderschulbesuchsquote stieg im gleichen Zeitraum von
4,278 auf 4,844 Prozent. Unabhängig von der Disability Convention
hat auch das Schulwesen in Deutschland die UN auf den Plan
gerufen, diesmal den Rat für Menschenrechte (HRC), der im
Februar 2006 eine Kommission zur Inspektion des deutschen
Schulsystems nach Deutschland geschickt hat. Scharf kritisiert
deren Sonderberichterstatter in seinem Bericht vom 9. März
2007 „das mehrgliedrige Schulsystem, das selektiv ist und
zu einer Form der De-facto-Diskriminierung führen könnte“
und geht „davon aus, dass bei dem Auswahlprozess, der im Sekundarbereich
I stattfindet (das Durchschnittsalter der Schüler liegt abhängig
von den Regelungen der einzelnen Länder bei 10 Jahren) die
Schüler nicht angemessen beurteilt werden und dieser [Auswahlprozess]
statt inklusiv zu sein exklusiv ist. Er konnte im Verlaufe
seines Besuchs beispielsweise feststellen, dass sich diese
Einordnungssysteme auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie
Kinder mit Behinderungen negativ auswirken“ (HRC 2007: Summary).

Die
Beispiele zeigen, dass die Lebensverhältnisse Behinderter
in Deutschland in einem z. T. eklatanten Widerspruch zu den
Zielen und zentralen Vorschriften der UN Disability Convention
stehen.

IV.
Ob sich jedoch die Situation
durch die Ratifizierung der UN Disability Convention grundlegend
ändern wird, bleibt aus meiner Sicht fraglich. Beide Beispiele
zeigen Praxen im Umgang mit Behinderten auf, die, wie die
jeweils zuständigen UN-Kommissionen festgestellt haben, bereits
jetzt im Widerspruch zu internationalen Konventionen stehen.
Die Situation in stationären Einrichtungen steht im Widerspruch
zum Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte. Dieser wurde am 19. Dezember 1966 von der
UN-Vollversammlung verabschiedet und am 17. Dezember 1973
von der Bundesrepublik ratifiziert. Trotzdem stellt sich die
Situation heute so dar, wie dokumentiert und vom Komitee 2001
gerügt – abgesehen von einigen negativen, heute weithin in
Vergessenheit geratenen Schlagzeigen, ohne Konsequenzen. Die
schulische Situation (nicht nur) Behinderter steht, wie festgestellt,
sogar im Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
die am 10. Dezember 1948 verabschiedet wurde. Die Disability
Convention kann dazu beitragen, dass das Thema Behinderung
in der Politik und in der Öffentlichkeit zunehmend auch als
Menschenrechtsthema wahrgenommen wird. Sie dient insofern
einer Konkretisierung bisheriger Konventionen und könnte eine
Sensibilisierung dafür bewirken, dass diese Konventionen für
alle Menschen gelten, also auch für Behinderte. Ob sie darüber
hinaus mehr bewirkt als die schon bestehenden internationalen
Konventionen, denen die Bundesrepublik beigetreten ist, bleibt
abzuwarten.

V.
Anlass zur Skepsis, ob
durch gesetzliche Regelungen inhumane Lebensverhältnisse zu
überwinden sind, gibt jedenfalls auch die Rechtsprechung deutscher
Gerichte zu im Grundsatz durchaus richtungsweisenden gesetzlichen
Vorschriften zur Stärkung der rechtlichen Stellung Behinderter.Auch dafür zwei Beispiele zur Auslegung der 1994 als
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 im Grundgesetz verankerten Vorschrift
„niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“
durch bundesdeutsche Gerichte:


1.      
Am 08. 01. 1998 gelangte der 7. Zivilsenat des OLG Köln (AZ 7 U 83/96)
zu der Einschätzung, dass die Art und Weise, in der Bewohner
einer stationären Behinderteneinrichtung des Landschaftsverbandes
Rheinland in Düren versuchen, ihre Wünsche, Bedürfnisse und
Gedanken zum Ausdruck zu bringen und sich anderen Menschen
mitzuteilen, keine ihrer Normalität entsprechende Form der
Artikulation und der Kommunikation seien, sondern „unartikuliertes
Rufen, Gurgeln, Stöhnen, Lachen und Lallen“ und mithin ruhestörender
Lärm, der der Nachbarschaft nicht zuzumuten sei. Mit dieser
Begründung verbannte es in seiner Entscheidung die Betroffenen
zwischen dem 01. April und
dem 31. Oktober eines jeden Jahres an Sonn- und Feiertagen
ab 12.30 Uhr, mittwochs und an Samstagen ab 15.30 Uhr aus
Garten ihres Heims.


2.      
Am 08. 10. 1997
hatte das Bundesverfassungsgericht über die Klage eines körperbehinderten
Mädchens zu befinden, das nachdem es ohne Probleme mit entsprechender
Unterstützung die Grundschule absolviert hatte, an eine integrierte
Gesamtschule wechseln wollte, so wie einige andere ihrer Mitschülerinnen
und Mitschüler auch. Auch hier hätte sie, wie schon in der
Grundschule, zusätzliche Unterstützung gebraucht. Die wollte
der Schulträger jedoch aus Kostengründen nicht zur Verfügung
stellen und ordnete stattdessen die Einschulung des Mädchens
gegen ihren Willen und gegen den Willen ihrer Eltern in einer
Sonderschule für Körperbehinderte an – im Grundsatz zu Recht
befanden die Verfassungshüter und kamen zu dem bemerkenswerten
Schluss „daß in der Verweisung eines behinderten Kindes auf
eine Sonderschule gegen seinen und seiner Erziehungsberechtigten
Willen nicht schon für sich eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG verbotene Benachteiligung liegt“ (AZ 1 BvR 9/97). Ein Anspruch
auf Integration in eine Regelschule bestehe nur dann, so die
Richter, wenn „der dafür benötigte personelle und sächliche
Aufwand mit den vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten
werden kann“. Ausdrücklich räumt es dem Schulträger das Recht
ein, „von der Einführung solcher Integrationsformen ab(zu)sehen,
deren Verwirklichung ihm aus pädagogischen, aber auch aus
organisatorischen, personellen und finanziellen Gründen nicht
vertretbar erscheint“. Im Klartext: Ein Anspruch auf Integration
besteht nur, wenn es für die zuständige Schulbehörde nicht
zu teuer wird. Unmissverständlich haben also die obersten
Verfassungshüter in dieser Entscheidung das Diskriminierungsverbot
des Grundgesetzes unter Kostenvorbehalt gestellt und damit
den Fortbestand einer Praxis abgesichert, die wie gezeigt,
zehn Jahre vom internationalen
Rat für Menschenrechte
als Verstoß gegen die Menschenrechte gerügt wurde
, bislang allerdings ohne Konsequenzen.

Zumindest
in diesen beiden Fällen hat sich die neue Verfassungsnorm
leider sehr deutlich als Papiertiger erwiesen.

Gez.

Prof.
Dr. Eckhard Rohrmann
Institut für Erziehungswissenschaft
Bereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik

Schwanallee 50

35037
Marburg

Fax:
06421 / 2824531

Web:
http://www.uni-marburg.de/fb21/erzwiss/personal/prof/rohrmann_hp


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